Absturzgefahr

Fritzi Jelinek hat ihren Namen von ihrer Mutter, einer AHS-Lehrerin mit Begeisterung für Elfriede Jelinek und Friederike Mayröcker bekommen, ihr Literaturstudium aber abgebrochen, um Lebensberaterin und Schreibtrainerin zu werden. Außerdem möchte sie sich, weil ihr Vater diesen Beruf ausübt, zur Psychotherapeutin ausbilden lassen.

Vorläufig gibt sie aber für ihre Diplomarbeit dem Autor Harald Hoffmann Schreibcoaching bezüglich seines Romans, der von fünf Frauen zwischen zwanzig und hundert handelt, Urur-Ur-Groß-Mutter und Tochter, die in einem Haus im Grünen zusammenwohnen. Sie wohnt dagegen mit der Mutter und dem Großvater in einem Reihenhaus, der ebenfalls Deutschlehrer war, jetzt aber seine Literaturbegeisterung mit Büchersammeln auslebt und Fritzis Mutter, die in der Midlifecrisis steckt, damit zur Verzweiflung bringt.

Dann gibt es noch den polnischen Priester Janusz Warszinski, dessen Vater bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen ist, in den sich Fritzi während eines Praktikums fast verliebt und den Dänen Jan Rasmussen, der sie vor zwei Jahren in Warschau küssen wollte, jetzt aber seine Hochzeitsreise nach Wien machen will ...

Die Personen und die Handlung sind erfunden.

13

Fritzi Jelinek hatte sich mit ihren Laptop in den Burggarten begeben. Dort saß sie auf der Terrasse, hatte einen Kakao mit Schlagobers vor sich stehen und schaltete ihr Gerät ein. Mit Schlagobers hatte sie die heiße Schokolade bestellt, obwohl das viele Kalorien hatte, man fett davon wurde und die Mutter in Ohnmacht fallen oder einen ihrer Schreikrämpfe bekommen würde, wenn sie davon erfuhr. Das war aber das Gute an der Sache, sie wußte es nicht. Würde es nicht erfahren, es ging sie auch nichts an. Fritzi war auch nicht dick, sondern rank und schlank. Besaß eine wunderbare Figur, um die die Mutter sie beneidete, die sich für eine ähnliche gesund hungerte. Ihr war es egal, daß sie, wenn sie nicht aufpasste, in fünfundzwanzig Jahren so wie die Mutter aussehen würde. Ganz egal war ihr das. Sie ließ sich die heiße Schokolade schmecken und rührte mit dem langstieligen Metalllöffel sorgfältig in dem hohen Porzellanbecher herum. Der Laptop war hochgefahren. Sie würde zuerst ihre Mails durchsehen und sich dann an die Korrespondenz mit Harald Hoffmann machen. Von dem ein weiteres Kapitel gekommen war, zu dem sie Vorschläge geben sollte, die sie erst an Henny Leitenberger, dann an den Autor schicken würde. Der Kakao war heiß und gut. Mollig rann er ihre Kehle hinunter. Fast ein wenig üppig für den sonnigen Aprilvormittag. Aber das machte nichts. Sie würde die überzähligen Kalorien speichern, als könne sie für kältere Tage einen Vorrat anlegen. Die Cafeterrasse war nicht sehr besucht, nur auf der Wiese tummelte sich eine Kindergartengruppe. Eine Gruppe Kinder mit gelben Baseballmützen, die das Kindergartenlogo schmückte, nicht viel älter, als es der kleine Joel war, wurden von den Erzieherinnen auf zwei Parkbänke gedrängt, die sie abzuzählen begannen, danach Knabberstangen und Kakaopäckchen an sie verteilten. Auf dem Boden tummelten sich die Tauben, die sich auf die mampfende Kinderschar neugierig geworden, näherten und von dieser die ersten Knabberstangenstückchen offeriert bekamen, was die Erzieherinnen in Aktion zu bringen schien. War das Taubenfüttern doch, wie Fritzi unlängst im Fernsehen gehört hatte, inzwischen verboten. Neuerschaffene Parkwächter kassierten bei den zuwiderhandelnden alten Damen unerbittlich Bußgeld ab und durften sie auch nach Hause begleiten, falls sie kein Geld bei sich trugen. So hatte Fritzi es gehört und das schien auch für die Kinder, beziehungsweise für die für sie verantwortlichen Erzieherinnen zu gelten, denn eine hatte jetzt bemerkt, daß ein blondgelockter Bub, der viele Sommersprossen auf der Nase trug, eine seiner Stangen den Tauben offerierte.

„No food for birds!”, hörte Fritzi die rothaarige Frau formulieren. Offensichtlich handelte es sich um eine englischsprechende Erzieherin und einen Kindergarten, der die entsprechende Frühförderung bot.

„This is no food for birds, only food for kids!”, wiederholte die Rothaarige mit den Ringellocken in der weißen Anorakjacke entschlossen. Erregte dadurch die Aufmerksamkeit der Kinder, die besonders eifrig ihre Stangen fallen ließen, was die Freude der Tauben erhöhte.

„No, no, no!”, protestierte die englischsprechende Pädagogin laut. Fritzi hatte in ihrer Post ein Mail von Jan gefunden.

„Fein!”, frohlockte sie und begann es aufzumachen.

„Das ist gewiß das Foto von ihm und seiner Frau. Ich freue mich, sie kennenzulernen. Ob sie auch so rotlockig wie die englischsprechende Kindergärtnerin ist? Aber die Däninnen sind meist groß und blond!”

Es war kein Foto zu finden, nur ein Mail von Jan, in dem er ihr mitteilte, daß er kein solches schicken könne und sie um Geduld bitte, da noch nicht sicher sei, ob sie nach Wien kommen konnten.

„Da Margret schwanger ist, sich im Augenblick sehr unwohl fühlt und wir auch die Wohnung und das Kinderzimmer einrichten müssen, kann es sein, daß wir unseren Besuch um ein Jahr verschieben. Ich hoffe, daß du das verstehst und nicht böse bist!”, schrieb er ihr. Fritzi nahm einen Schluck Kakao und zuckte mit den Achseln. Inzwischen erklärte die andere Kindergärtnerin, den Kindern auf Deutsch, daß man die Tauben nicht füttern durfte und Fritzi dachte enttäuscht „Schade, denn das hätte gut gepasst. Ich hab mich schon darauf gefreut!”

Es machte aber nichts, denn es war ja positiv, daß Jan Vater wurde und Margret schwanger war. In einem Jahr würde sie vermutlich schon in Linz sein, mit Joel im Park spazieren gehen und ihm das Taubenfüttern verbieten. Ob das dort auch nicht erlaubt war? Wenn Jan und Margret nach Linz kamen, konnte Joel mit dem Baby spielen. Aber mit einem Baby würde die Reise noch anstrengender sein.

„Wieso er kein Foto schicken konnte?”, rätselte Fritzi, archivierte das Mail und wandte sich Harald Hoffmanns viertem Kapitel zu, in dem es auch um ein Baby ging und um ein paar alte Damen, denen man das Geschlecht desselben vorsichtig beibringen mußte. Marie hatte ihrer Mutter ein Foto des neugeborenen Benno gezeigt. Jan hatte kein Foto für sie. Die Kindergärtnerinnen sammelten die leeren Kakaopackungen ein und nahmen den Kindern die übergebliebenen Knabberstangen weg.

„No food for birds, only food for kids!”, wiederholte Rotlocke ihren anglikanischen Singsang und Fritzi überlegte, welche Schreibaufgabe sie Harald Hoffmann stellen sollte? Es war interessant, wie es in dem Fünffrauenhaushalt weiterging. Wie würde die hundertjährige Johanna die Nachricht vom Urururenkelsohn aufnehmen? Als sie vor achtzig Jahren, die kleine Dora geboren und mit ihr in den Steinhofgründen spazierengefahren war, hatte man bestimmt noch Tauben füttern dürfen. Aber in den Steinhofgründen hatte es wahrscheinlich mehr Eichhörnchen als Tauben gegeben und Johanna hatte Nüsse in der Tasche getragen, mit denen sie gefüttert hatte.

„No food for squarrels!”, hatte sie der kleinen Dora wahrscheinlich nicht gepredigt, war damals die englischsprachige Frühförderung nicht modern und das Füttern nicht verpönt gewesen. Ob sie Harald Hoffmann vorschlagen sollte, eine solche Szene einzubauen? Es war sicher spannend zu erfahren, was Henny Leitenberger dazu meinte. Sie konnte es in ihrem Mail so vorschlagen und freute sich zu erfahren, wie es weiterging. Fritzi nahm einen weiteren Schluck Kakao und beobachtete die Kindergärtnerinnen, die die leeren Kakaopackungen in den Mistkübel warfen und die Kinder ins Schmetterlingshaus trieben. Die Tauben waren weggeflogen. Janusz Warszinski war es auch. Nach Warschau, zum Begräbnis seines Vaters. Während der Präsident mit seiner Ministerriege im Krakauer Wawel begraben wurde. Das hatte sie in den Nachrichten gehört und auch von den Proteststimmen erfahren, die dagegen waren, daß der Präsident seine letzte Ruhe an einem Ort finden sollte, wo einst Könige begraben wurden. Die Kellnerin nahm den leeren Kakaobecher und erkundigte sich nach weiteren Wünschen. Fritzi bestellte ein Glas Wasser und dachte, daß sie Barbara informieren mußte, daß sie ihre Wohnung doch nicht brauchte, beziehungsweise sich darauf einstellen sollte, die Blumen selbst zu gießen und die Katze Brösel zu füttern, was erlaubt war und man mußte. Dann konnte sie aber nicht nach Linz zum Vater fahren und, daß der sie die Zeit, in der er mit Rita zu einem Kongreß in die Toskana fahren würde, für Joel brauchte, hatte er schon angedeutet. Die Mutter würde toben, wenn sie das erfuhr und „Du bist nicht Bernds Kindermädchen!”, schreien. Aber auch das ging die Mutter nichts an und war ihre Angelegenheit. Sie mußte ohnehin erst ihr Praktikum absolvieren, bevor sie zum Vater fahren konnte. Wenn Jan nicht kam, hatte sie Zeit dazu und die Katze mußte jemand anderer füttern. Babsi hatte viele Freunde und würde schon jemanden finden. Das Mail an Harald Hoffmann war geschrieben. Sie sandte es ab und überlegte, ob sie noch ein wenig bleiben oder schon nach Hause gehen sollte, wo sie sich mit dem Großvater das Präsidentenbegräbnis anschauen konnte, was im Sinn der Mutter war, denn wenn sie sich mit ihm unterhielt, konnte er nicht zum Bücherschrank.


Alfred Nagl