Brüderschaft

Als Barbaras Mutter völlig unerwartet an den Folgen eines Sturzes verstirbt, findet sie in ihrer Dokumentenmappe ein Foto mit drei jungen Männern am Meeresstrand von Bibione, auf dessen Rückseite eine Adresse steht.

Ein Hinweis auf Barbaras bisher unbekannten Vater und die Suche nach ihm, beziehungsweise den Brüdern Konrad, Jonas und Benjamin Wohlfahrt, ein Historiker, ein Psychiater und ein Zahnarzt beginnt.

Das Gruftie-Mädel

Esther stand vor ihrem Kleiderschrank und schaute mit kritischen Blick und gerunzelter Stirn hinein. Eine Reihe schwarze Hosen, T-Shirts und Tops konnte sie entdecken, sonst nicht viel. Was nicht verwunderlich war, trug sie doch nur dunkle Sachen. Seit fast zehn Jahren, seit ihrer Matura oder vielleicht schon früher, hatte sie sich angewöhnt, sich in diesen Gruftielook zu hüllen. Vorwiegend, um die Mutter zu ärgern, hatte sie die morbide Stimmung angesagt, denn die liebe Mama hatte sich wahrhaft eingebildet, ihr Töchterlein in einen Prinzessinnenstil zu hüllen, damit sie bei ihren Freundinnen angeben konnte. So war die kleine Esther in Designerkindermodenshops geführt worden, hatte bunten Röckchen und bunte Blüschen mit Spitzenkragen tragen müßen, bei denen die Verkäuferinnen in Entzückungsschreie ausgebrochen waren. Die anderen Tussies, mit denen sich die Mutter umgab „Ah!” und „Oh!”, ausriefen und Esther war sehr lang ein braves Mädchen gewesen, daß sich gegen diesen Mißbrauch nicht wehrte. Wahrscheinlich hatte die Trotzphase bei ihr nicht funktioniert. Den hatte ihr die Psychiatermutter ausgetrieben, so daß sie erst mit Sechzehn zu rebellieren begann, was bei ihrer Mutter auch nicht einfach war. Denn die war ausgefuchst gewesen und hatte mit allen Tricks gearbeitet. Liebes- und Taschengeldentzug, Fernsehverbot und alle anderen fiesen Dinge, die man inzwischen beim Kinderanwalt anzeigen konnte, hatte es gegeben. So war sie noch zu ihrer Matura in einem Tüllkleidchen angetreten und dem Vorsitzenden waren fast die Augen aus dem Kopf gekullert, weil er so intensiv auf ihren Busen starrte und er sich bestimmt eine Kopfverrenkung dabei zugezogen hatte. Das war dann bald vorbei. Esther hatte das teure Markenkleid auf den Müll geschmissen, sich schwarze Jeans und schwarze Tops besorgt, von denen sie sicher war, daß sich die Mutter ärgern würde, wenn ihre Tochter, als Gruftie am Sonntagstisch erschien und hatte sie angebrüllt, daß sie großjährig sei und sich nichts mehr vorschreiben lassen würde. Die Mutter hatte zurückgebrüllt, die ukrainische Haushaltshilfe mit verschreckten Augen auf die tobende Mutter-Tochter- Symbiose gestarrt „Was ist los, Herr Doktor, ist Frau krank?”, gestammelt und der Vater hatte in seiner hilflosen Art zu vermitteln versucht, was bei ihrer Mutter nichts nützte. Das war jetzt vorbei. Die Mutter hatte kapituliert und war nach Amerika verschwunden. Konnte dort ihre Markenkleider mit Rüschen und Spitzchen unter dem weißen Mantel tragen, wenn sie das wollte. Esther war wieder in ihr Mädchenzimmer zurückgekehrt und hatte ihr schwarzes Outfit mitgebracht, das sie immer noch trug und ihr auch gefiel. Der Vater sagte nichts dagegen und auch Frau Mihic vom Praktikumskindergarten schien nichts Auffälliges daran zu finden, nur eine der Mütter hatte einmal wissen wollen „Sie sind immer so schwarz angezogen, Fräulein, sind Sie vielleicht in Trauer?”

Hatte die Gute eine Ahnung! Sie trauerte nicht um ihre Mutter, absolut nicht, tat sie das und eigentlich auch nicht um ihr Medizinstudium, das sie freiwillig hingeschmissen hatte und heute war überhaupt ein Freudenstag. Denn der negative Harntest lag in ihrer Handtasche und sie hatte sich um elf zum Aufnahmegespräch in der BAKIP einzufinden. Frau Mihic hatte ihr einen vorzüglichen Praktikumsbericht geschrieben, den sie ebenfalls in der Tasche trug, doch was zog sie dazu an? Eine schwarze Hose und einen schwarzen Pulli natürlich und dazu die schwarze Lederjacke. Sie hatte nichts anderes und nicht die Absicht sich ein Kostüm zu kaufen. Haßte sie doch Verstellung und hatte nicht vor sich zu verkleiden. Andererseits wollte sie aufgenommen werden. Sonst hätte es keinen Sinn hinzugehen. Sie wollte Kindergärtnerin werden, weil ihr das gefiel und schwarz war eigentlich modern. Die Chucks und die Martens konnte sie zu Hause lassen. Obwohl Chucks auch die anderen Pädagoginnen im Praktikumskindergarten trugen. Die Chucks waren also okay und das Piercing ließ sich auch nicht entfernen. Aber die Augen mußte sie nicht so schwarz schminken, um als Gruftie zwischen den braven Bewerberinnen im Kostüm mit Seidenbluse, aufzufallen und die Haare weniger gelen, so daß sie nicht zu stark abstanden. So sah sie eigentlich ganz ordentlich aus. Brav und bieder und so unauffällig, daß die Tanten keinen Schreck bekommen würden und jetzt ab, damit sie pünktlich war. Vor dem Vater brauchte sie sich nicht fürchten, der war in seiner Klinik, ärgerte sich mit der Oberschwester und hatte sich gestern mit seiner möglichen Tochter getroffen und ihr beim Frühstück lang und breit davon erzählt. Ja richtig, das schwarze Schaf hatte sich gewandelt. Sie sprach wieder mit ihrem Daddy, nicht, um klein beizugeben, sondern, weil sie sein Sündenfall interessierte. Daß sie heute einen Aufnahmetest hatte, hatte sie ihm natürlich nicht verraten. Allerdings hatte sie den Eindruck, daß Tante Lilly geplaudert hatte. Die Gute hatte wohl vermitteln wollen, damit sich der Vater nicht wegen seiner mißratenen Tochter kränkte und in eine Depression verfiel, mit der ihm dann Elfriede Hofer erpresste, um ihn von der Klinik zu mobben. Sie wußte ja, wie das lief. Das Leben war hart und ungerecht und ihr Vater nicht sehr gut im Durchsetzen. Also war sie einverstanden, daß sich der Papa weniger kränkte und jetzt hatte sie keine Zeit länger nachzudenken, dachte sie und befand sich eine Stunde später im Wartesaal des Kindergarteninstiuts wirklich zwischen zwanzig herausgeputzten Musterschülerinnen. Zwei junge Männer waren auch dabei, die verächtlich auf ihre schwarzen Jeans und die dunkle Lederjacke blickten und sich wohl dachten „Sehr gut, wieder einen Punkt mehr, diesen Gruftie nehmen sie wohl nicht!”

Blickte genauso verächtlich zurück und dachte an ihr Praktikumszeugnis, das wirklich vorzüglich war. Frau Mihic hatte sich nicht lumpen lassen und ihren negativen Harntest. Es sollte also nichts passieren, als sie zwanzig Minuten später zwei mittelalten, Kostüm tragenden Tanten und einem Herrn in einer beigen Lederjacke gegenübersaß, die auf ihren Lebenslauf und ihr Aufnahmegesuch schauten und sich streng nach ihrer Motivation Kindergartenpädagogin zu werden, erkundigten.


Alfred Nagl