Dreizehn Kapitel

Kann man kapitelweise einen Roman schreiben? Beziehungsweise wird ein solcher daraus, wenn sich das Geschehen von einer Person zu der nächsten hinüberspinnt?

Eine interessante Frage, die mich in diesem Jahr beschäftigt hat, so daß es eine Erzählung wurde, die aus dreizehn Kapitel besteht, in der eigentlich die Themen enthalten sind, die mich in meinem nun schon vierzigjährigen Schreiberinnenleben beschäftigten und noch immer beschäftigen.

Es beginnt mit Laura Augustin, einer Büchersammlerin, die sich in Pension begibt und sich in dieser mit der Frage auseinandersetzt, wie sie es schaffen soll, alle ihre ungelesenen Bücher aufzulesen, während sich ihre Freundin Uschy Bischof mit einem alten blauen VW-Bus auf Weltreise begibt.

Der ehemalige Kulturstadtrat Laurenz Wolkner ist an Alzheimer erkrankt und wird in seiner Seniorenresidenz sowohl von dem jüngeren Psychiater Stefan Horetzky, als auch von der Oberschwester Dolores, die des Arbeitsplatzes wegen von Granada nach Wien kam und nun an Heimweh leidet, betreut.

Eine Frau am Fenster gibt es auch und eine Therapeutin, die einen Klienten hat, der in einen Plagiatsskandal verwickelt ist, während sich ihre Freundin, die Menschenrechtsanwältin Ruth Horvath, eine Schwester für ihr Töchterlein Zoe-Philipa wünscht.

2. Die gesprengten Gräber kehren zurück

Er wußte auch nicht wieso ihm dieser Satz durch den Kopf ging, den ganzen Vormittag schon memorierte er ihn trottelhaft vor sich hin, als wäre er von dort nicht mehr herauszubekommen. Nicht aus den Augen und auch nicht aus dem Sinn. Dabei war es ein völlig idiotischer Satz, einer der jeden Sinn entbehrte und er legte Wert darauf, daß ein solcher für ihn sehr wichtig war. Auch im fünfundachtzigsten Lebensjahr und kurz nach der Jahrtausendwende, in der er sich nun befand, legte er Wert darauf im Vollbesitz aller geistigen Kräfte zu sein und war auch nie ein solcher Romantiker gewesen, daß ihn, wie bei einem jungen dummen Mädel, ein einziger Satz vollkommen durcheinanderbrachte.

„Er liebt mich, liebt mich nicht, mit Freuden, mit Schmerzen, von Herzen, ein wenig, gar nicht ...”

Auch als er jung gewesen war, hatte er solchen Unsinn nicht vor sich hingebrabbelt. Niemals einer Margarite die Blumenblätter ausgerissen, um herauszufinden, ob ihn ein Gretchen, Lenchen oder auch eine Sarah, beziehungsweise Konstanze, hold erschien und jetzt lebte man, wenn er seine Tochter und seine Enkelkinder richtig verstand, in anderen Zeiten, wo die Mädchen nicht mehr Gretchen hießen und an keinen Margariten zupften, sondern Handies oder Computer bedienten, um die gleichen Fragen zu beantworten. Es entbehrte auch jeder Grundlage, denn welche Gräber sollten zurückkehren? War er doch nicht gestorben und hatte das noch lang nicht vor, auch wenn er ein wenig depressiv, wie das heute hieß, sein sollte und das Leben nicht gespart hatte, ihn hin und her zu beuteln, tat er das nicht. Sondern lebte stur und beharrlich vor sich hin, wie das auch seine selige Frau Mutter vor achtzig oder mehr Jahren von ihm behauptet hatte, wenn sie mit dem widerspenstigen kleinen Ernsti wieder einmal nicht zufrieden war. Sie war eine strenge Frau gewesen, die Berta Schwarz, die an dem lebenslustigen kleinen Bübchen, das er einmal war, viel auszusetzen hatte und er hatte viel erlebt in seinen fünfundachtzig Lebensjahren. War durch den Kontinent hin und hergeschleudert worden. In einen Wiener Bürgerhaushalt anno 1916 geboren, verlebte er seinen Lebensabend in einem schönen Haus im Waldviertel, in Münichreith, dazwischen hatte es ihn bis nach China gebracht. Damals, als die Nazi nach Österreich kamen und den jüdischen Medizinstudenten nicht haben wollten, hatte es ihn mit seinem Bruder Egon nach Shanghai verschlagen. Hatte dort nicht nur Chinesisch und einige Frauen kennengelernt, es war ihm auch gelungen, zu einem wissenschaftlich anerkannten Sinologen zu werden, der Laoe Tse, Konfuzius und andere Gelehrte nach Europa brachte, wo man sie zu diesem Zeitpunkt weder besonders kannte noch schätzte. Sehr gut war das sogar gegangen. Bis sie im Reich der goldenen Mitte „Den großen Sprung nach vorne machten”, ihn dazu nicht brauchten und aus dem Land beförderten. Damals, etwa 1960 war das gewesen, war er in die DDR gegangen, hatte an der Humboldt-Universität Chinesisch unterrichtet und weiter übersetzt, bis er wieder Kontakt mit seinem Vaterland aufgenommen hatte und nach dem politischen Umbruch, den es auch in Ost-Berlin gegeben hatte, nach Österreich zurückgekommen war. Die sozialistische Partei, die ein großer Förderer von Kunst und Wissenschaft gewesen war, machte es möglich und jetzt hatte er auch die Erklärung des Satzes, der immer noch in den Windungen seines Hirnes, wie ein goldener Ohrwurm hin und her rotierte und von dort nicht zu vertreiben war. Konnte erleichtert aufatmen und sich freuen, war er doch weder dement, noch senil oder, wie die Krankheiten hießen, die nach den neuen Wissenschaftlern, so alte Eseln, wie ihn bespringen sollten. Er war nicht verblödet, denn „Das gesprengte Grab” war der Name einer Anthologie mit Erzählungen aus China, die er 1989, kurz vor der großen Wende, im Verlag „Neues Leben” in Berlin herausgegeben hatte und in der er so würdige Autoren, wie Li Hangyu oder Wang Meng nach Deutschland gebracht hatte. Dann war dort der große Sprung passiert und hatte die Mauer, die durch Berlin, statt durch Peking ging, zerrissen, weil die Menschen wieder einmal alles besser machen wollten und diesmal nicht „Ein Reich, ein Volk, ein Führer!”, sondern „Wir sind ein Volk!”, so lange und so intensiv brüllten, bis die Mauer durch einen genauso großen Sprung hinweggefegt wurde und ihn nach einigen weiteren Verwirrungen nach Wien zurückgebracht hatte.

„Das gesprengte Grab” war der Titel einer Erzählung des geschätzten Li Hangyu, der hier inzwischen längst vergessen war, wie auch die ganze Anthologie wohl nur mehr in seiner Bibliothek zu finden war und gestern hatte er, wenn er sich nicht irrte und nichts durcheinanderbrachte, das inzwischen schon etwas vergilbte Büchlein aus dem Regal geholt und auf seinen Schreibtisch gelegt, weil er seine Lebenserinnerungen schreiben wollte. Wenn man so alt wie er war, machte man das gewöhnlich. Noch dazu, wenn man, wie es bei ihm der Fall gewesen war, soviel erlebt hat. So hatte jedenfalls Melan zu ihm gesagt, die seine Tochter war, als sie ihn das letzte Mal besuchte.

„Du darfst nicht aufgeben, Vater, das raten dir auch deine Ärzte, nicht verzweifeln, sondern nach vorne blicken! Zeig es deinen Feinden und Widersachern, die dich jetzt vernichten wollen, weil du ihnen nicht in den Kram passt! Spring nach vorne, Vater, wie sie es auch in China taten und gib nicht auf! Schreib deine Memoiren und zeige ihnen, was du zu bieten hast!”

Da war wieder vom „Großen Sprung nach vorn die Rede” und schien, wie es aussah, die gesprengten Gräber zu verdrängen, denn die kamen natürlich nicht zurück und er würde nicht mehr nach China kommen. Li Hangyu war dort geblieben. Ihn hatte man hinausgeworfen und das Buch hatte er von Ostberlin nach Wien gebracht, als sich dort das System änderte und das warf man ihm nun vor. Pflegte ihn Reaktionär, Spion und Staatsfeind zu beschimpfen und ihn im Alter nicht in Ruhe zu lassen, so daß nachts die schlechten Träume kamen, die die Psychiater Depressionen nannten. Das war auch so ein Wort, das ihm nicht geläufig war, als er in Wien Medizin studierte und dem Psychiater Gabriel Horetzky, der mit Lithium zu behandeln pflegte und auch schon einmal einen dieser elektrischen Schocks verabreichte, nicht glaubte, daß es solche waren, die ihn nicht schlafen ließen. Er hatte viel erlebt, mehr, als manche andere, das stimmte. Viel erreicht hatte er auch, war er doch ein anerkannter Übersetzer und Wissenschaftler, aber auch viel aufgeben und verlassen müssen, an dem sein Herz vielleicht noch hing. Zuerst hatte ihn der Sprung der braunen Brüder, der sich als einer in die Vernichtung erwiesen hatte und seiner Familie und seinem Volk das Leben gekostet hatte, nach China gebracht. Dann war er dort zu reaktionär und volksfeindlich erschienen, so daß er dem Regime in Ostdeutschland erst seine Solidarität und Zuverlässigkeit beweisen mußte, bevor es ihn auf seine Universitäten ließ. So hatte er jedenfalls seine Mitarbeit für die Staatssicherheit verstanden und sie seinen Wiener Freunden, als die 1994 seine Akte aus irgendwelchen Kellern holten und ihm vor die Füße warfen, zu erklären versucht. Seine Wiener Freunde hatten nicht verstanden, daß man, um zu überleben, manchmal etwas tun mußte, zu dem man sonst nicht greifen würde. Der Zeit Opfer bringen, könnte man es nennen. Er hatte es nicht so genannt, sondern nur so stur und starr, wie er es als Bub vor seiner scheltenden Mutter getan hatte, vor sich hingesehen und den Kopf geschüttelt. Dabei hatte der große Vorsitzende der österreichischen Sozialisten, mit dem er vor dessen Tod, 1990, noch in der DDR Kontakt aufgenommen hatte, selbst die Heimat verlassen und war nach Schweden, während er nach Shanghai und dann nach Ostberlin gegangen war und von Wien nach Münichreith, wo er seine Ruhe haben und vergessen wollte. Vergessen eigentlich nicht. Denn er war ein anerkannter Wissenschaftler. War es immer noch, auch wenn sie jetzt selbst das zu bezweifeln schienen und seinen Konfuzius und anderen Übersetzungen mangelnde Werktreue vorwarfen. So daß Melan vielleicht recht hatte, wenn sie von einer Autobiografie sprach, die er schreiben sollte, um sich zu rehabilitieren. „Du mußt es ihnen zeigen, Vater, gib nicht auf!”, hatte sie, die Schauspielerin, die unter dem Namen Marijam Agischewa bei der DEFA berühmt geworden war, zu ihm gesagt und der Kontakt zu einem Verlag war auch schon hergestellt.

„Tausend Tore hat die Wahrheit”, sollte sie heißen und das war ein Titel, der nicht zu widerlegen war.

„Wie wahr!”, hatte auch Konrad, ein Schüler, der zu ihm hielt und ihn mit seiner Frau Anita regelmäßig besuchte, gemeint.

„Das ist ein schöner Titel, Ernst, für eine Autobiografie, daran solltest du dich halten!”

Und seine Haushälterin, die gute Seele, die ihm die besten Apfelstrudel und Marillenknödel zu servieren pflegte, drängte ihn auch, nicht zu rasten und zu verrosten, sondern sich an den Schreibtisch zu setzen und der Wahrheit seines bewegten Lebens die tausend Tore aufzumachen. Deshalb hatte er „Das gesprengte Grab” gestern aus seiner Bibliothek genommen und auch die „Aufzeichnungen des Meisters vom blauen Fels.”

Die heutigen Sinologen sollten angeblich die Werktreue seiner Übersetzungen bezweifeln, weil er ein Autodidakt war, der sich selber Chinesisch beigebracht hatte, wollten sie ihm seine Kompetenz abstreiten. Es stimmte, daß er in Shanghai als Sportlehrer gearbeitet hatte und auch, daß er, als er an der Alma Mater in Wien Medizin studierte, nicht daran gedacht hatte, einmal aus dem Chinesischen zu übersetzen. Damals hatte er Arzt werden wollen. Dann war der Mann aus Braunau gekommen und es hatte ihn und Egon nach Shanghai verschlagen. Dann war er nach Ostberlin und schließlich nach Wien zurückgekommen und in Ostberlin hatte er eine Zeitlang für die Staatssicherheit gearbeitet. Das hatte er auch nicht bestritten, als sie triumphierend gekommen waren und ihm seine Akte zeigen. Er konnte es auch vor sich verantworten. Die Freunde hatten trotzdem streng den Kopf geschüttelt und seine Feinde sich ins Fäustchen gelacht. Sollten sie doch vor der eigenen Türe kehren und das gesprengte Grab war natürlich nicht zurückgekommen, um ihn zu holen und ihn der gerechten Strafe zu überführen, auch wenn er in der Nacht davon geträumt hatte. Fast jede Nacht träumte er davon. Vom Anschluß an die Nazis, die ihn und die Seinen zwangen, den Boden mit Zahnbürsten zu säubern und von den Chinesen, die ihm den Sprung nach vorne nicht erlaubten.

„Depressiv!”, nannte das Gabriel Horetzky, der Psychiater und sein Sohn Stefan, der in des Vaters Spuren treten wollte, stand daneben und nickte bestätigend mit dem Kopf. Hatten der Alte und der Junge eine Ahnung. Er war nicht depressiv, senil oder dement. Nur ein bißchen lebensüberdrüssig, denn was hatte der ganze Aufwand schon gebracht?

„Du hast viel erlebt, Vater, sei nur nicht so unbescheiden!”, mahnte ihn Melan und auch Konrad, der Schüler, der vom Werkzeugmacher ebenfalls zum anerkannten Sinologen geworden war und ihn manchmal mit seiner Frau besuchte, pflegte dasselbe zu sagen. Seine Haushälterin nicht. Die Waldviertlerinnen waren nicht so belesen und gebildet, hatte also keine Ahnung von dem Streit, der um ihn tobte. So war sie freundlich zu ihm, stellte ihm den besten selbstgemachten Apfelstrudel auf den Tisch und mahnte gutmütig „Sie müssen essen, Herr Professor!”

Aber wenn man so alt war, wie er es war, hatte man keinen Appetit. Der war ihm vergangen. Er war des Lebens überdrüssig, weil in der Nacht die Gräber zu ihm kamen, um ihn zu holen und in tiefer Erde zu verscharren und am Tag die Neider, die ihn entlarven, sowie die Ehrenzeichen und die Urkunden, die man ihm verliehen hatte, wieder wegnehmen wollten. Sollten sie sie haben, wenn sie damit selig wurden.

„Du mußt das nicht so streng sehen, Vater!”, pflegte Melan zu sagen, die inzwischen Heilpraktikerin geworden war und 1989 von einem USA-Aufenthalt nicht mehr in den Osten zurückgegangen war. Sie lebte in Westberlin. Er war 1993 nach Wien gegangen und wohnte jetzt in Münichreith in einem schönen Haus, von seiner Haushälterin liebevoll versorgt. Melan pflegte sich um ihn zu kümmern und Konrad, der ehemalige Schüler mit seiner Frau. Auch er redete ihm zu, an seiner Biografie zu schreiben und Dr. Horetzky, der Psychiater, der ihn mit Tabletten vollstopfen wollte, tat das auch.

„Wie soll ich noch denken können, Doktor, wenn Sie so meinen Geist umnebeln?”, pflegte er einzuwenden. Gabriel Horetzky lachte und antwortete, daß sich die Geister anders nicht vertreiben ließen. Aber „Das gesprengte Grab!” hatte er selbst aus dem Regal genommen. Gestern Abend hatte er es auf den Schreibtisch gelegt und so, wie es ihm die Tochter, der Schüler und der Psychiater rieten, ein, zwei Stunden an seiner Autobiografie gearbeitet.

„Tausend Tore hat die Wahrheit”, das stimmte auch und das wollte er ihnen ihnen zeigen. Dem großen Vorsitzenden der Sozialisten, der nicht mehr am Leben war und den anderen, die das sehr wohl taten. Aber durch die tausend Tore waren nur die Geister in seine Alpträume gekommen, die ihn quälten und verlachten und ihn schweißgebadet erwachen ließen.

„Herr Professor!”, hatte seine gute Seele händeringend geschrieen und Melan angerufen, als sie ihn am Morgen so getroffen hatte. Die ihm wieder gut zuredete und jetzt hatte er eine Tasse Kaffee getrunken und den Apfelstrudel hinuntergewürgt, den ihm die gute Seele aufgezwungen hatte. Es war nicht besser geworden. Natürlich nicht. Der Ohrwurm nicht aus seinen Kopf zu bekommen, obwohl das Buch schon längst vergriffen war und Li Hangyu, Wang Meng und all die anderen anerkannte Künstler waren und er hatte die Gesetze der Werktreue auch nicht mißachtet. Natürlich nicht, auch wenn sie ihm das nicht glaubten. Ihn Spion und noch viel Ärgeres nannten und ihm seine Orden und Medaillen wieder wegnehmen wollten. Sollten sie das tun. Was lag ihm an Ruhm, Ehre und Metall, wenn ihn bald die Geister holen und ins Grab bringen würden, auch wenn das im Münichreither Friedhof und nicht in China liegen würde und seine Widersacher hatten nichts verstanden. Gar nichts hatten sie, waren sie doch nie vor einer braunen Gewalt davongelaufen. Mit einem großen Sprung nach vorn gefallen und hatten auch nicht Konfuzius, Bi-Yän-Lu und Lo Tsai übersetzt, dachte er energisch und schüttelte den Kopf, bevor er aufstand, nach dem Gehstock griff und das Buch mit den langsamen bedächtigen Schritten, dem Humpeln, das das Alter den Greisen bringt, in die Bibliothek zurücktrug. Er brauchte es nicht mehr.


Alfred Nagl