Flora Fauns Bücherberge oder ein Freund kehrt zurück

Nach der Pandemie bemerkt die fünfundsiebzigjährige Flora Faun mit Schrecken, daß sie alle Kontakte zu ihren Freunden verloren hat. Familie gibt es ebenfalls keine, so daß ihre einzigen Bezugspunkte zu ihrer Nachbarin und deren dreizehnjährigen Sohn Jürgen besteht, den sie aus der Nebenwohnung immer Klavier spielen hört, weil seine Mutter ein Wunderkind aus ihm machen möchte.

1.

Als Flora Faun erwachte, fühlte sie sich schwach und schüttelte den Kopf, als sie aus dem Bett stieg und mit nackten Füßen in die Küche tappte, um den Morgenkaffee zuzubereiten. Was hatte sie nur für Unsinn geträumt? Träume sind Schäume, sagte man. Erinnerungsreste und Phantasien und da war auf einmal Mortimer Morris aufgetaucht, an den sie fünfzig Jahre nicht gedacht hatte. Mortimer Morris, ihr Jugendfreund, mit dem sie in ihren Studententagen sehr vertraut gewesen war, der später in seine Heimat England und aus ihrem Leben verschwunden war. Namen sind Omen, sagte man und sein Vorname hatte auch eine besondere Bedeutung, wie ihr einfiel, als sie die Tasse unter den Kaffeeautomaten stellte, das Brot aus dem Korb holte und im Eiskasten nach der Butter und dem Marmeladeglas suchte.

„Son morta”, sang doch Don Ottavio im „Don Giovanni”, den sie in ihren Studentinnentagen öfter mit Mortimer am Stehplatz der Staatsoper gesehen hatte. Dort hatte er sie an sich gedrückt, so daß sie sich nicht fürchten mußte, obwohl der Tod etwas Schlimmes war. Im Traum war Mortimer kein junger, sondern ein ergrauter Mann gewesen und hatte ihr mit kalter Stimme zugeflüstert, daß er sie holen wolle. Flora Fauns Hand zitterte stärker, als sie den Milchschaum in die Tasse fließen ließ. Sie atmete durch und schüttelte den Kopf.

„So ein Unsinn!”, dachte sie energisch. Hatte sie doch fünfzig Jahre nicht von Mortimer geträumt. Nicht an ihn gedacht und auch keine Ahnung, was er in England machte? War er geschieden, verwitwet, zweifacher Vater, vierfacher Großpapa oder längst an einem Krebs oder Herzinfarkt verstorben? Was gut möglich war, da er einige Jahre älter als sie war und sie hatte vor kurzem ihren fünfundsiebzigsten Geburtstag gefeiert, dachte sie und biß in ihr Marmeladebrot, das süß schmeckte.

„Komm, süßer Tod!”, mußte sie denken und schüttelte noch einmal den Kopf.

„Kein süßer Tod! Noch sind wir nicht so weit! Noch kannst du etwas warten, denn ich bin sehr beschäftigt und habe noch zu tun, bis es soweit ist, daß du mich holen kannst! Versprochen, denn ich habe in meinen Regalen tausend Bücher, die ich noch lesen will! Tausend und ein Buch, versprochen, Mortimer, dann bin ich so weit, mit dir, wo immer du willst, zu gehen! Aber bis dahin brauche ich Zeit! Viel Zeit sogar, obwohl ich eine eifrige Leserin bin und seit meiner Pensionierung außer meinem Haushalt, den täglichen Spaziergängen und den sonntäglichen Wandertouren durch den Wienerwald nicht viel zu tun habe!”

Hatte sie doch ihre Opernbesuche, wahrscheinlich eben so lange, wie sie Mortimer nicht gesehen hatte, aufgegeben und sich stattdessen aufs Lesen verlegt und da warteten noch viele Bücher auf sie. Hatte sie sich doch nach ihrer Pensionierung vorgenommen, alle aufzulesen, dachte Flora Faun und nahm einen Schluck Kaffee. Da blieb ihr genügend Zeit, denn wenn sie, wie es realistisch war, hundert Bücher im Jahr, also zwei bis drei in der Woche las, blieben ihr zehn Jahre. Konnte also aufatmen und brauchte nicht beunruhigt sein. Brauchte sich nicht sorgen und mußte nur aufpassen, gesund zu bleiben, so daß Morte Mortimer sie nicht holen konnte. Das war, wie sie mit neuerlichen Kopfschütteln feststellte, gar nicht so leicht, obwohl sie durchaus gesund war, sich fit und aktiv fühlte. Kein Krebs war bei ihr diagnostiziert worden. Ihr Herz schlug nicht unregelmäßig. Sie hatte keine Beschwerden und doch war sie, was die Pandemie betraf, die zwar jetzt vorüber, aber durch eine hohe Inflation und eine Kriegsangst ersetzt wurde, etwas betroffen. War sie doch aus ihr selbst nicht ganz nachvollziehbaren Gründen eine Masken- und Testverweigerin und konnte solcherart jetzt zwar in die Geschäfte, ins Theater und ins Kino gehen. Aber nicht die Spitäler und die Arztpraxen besuchen. Konnte in Wien auch nicht maskenlos Straßenbahn fahren, was sie, da sie eine passionierte Spaziergängerin war, nicht sonderlich störte. Nur ein Spital sollte sie nicht konsultieren und nicht dement werden, so daß sie in ein Pflegeheim übersiedeln mußte, wo Masken- und Testpflicht herrschte. Also weiterhin fit und gesund bleiben, damit das nicht passierte, dachte sie und stellte die Tasse noch einmal unter die Maschine. Damit hatte es bisher auch keine Schwierigkeiten gegeben. Also brauchte sie sich wegen Mortimers Traumbesuch nicht sorgen und ihn zu keinem Alptraum machen. Sie war zwar kinderlos und unverheiratet geblieben. Durch die Pandemie und ihre Impfverweigerung hatte sie auch ihre Freunde nach und nach verloren, was sie bisher ebenfalls nicht störte. Hatte sie doch an dem Tag, als sie ihre Pension angetreten hatte, ihre Bücherberge, Flora Fauns Freudenberge hatte sie sie genannt, zum Lesen vorgenommen. Das hatte ihr auch durch die Pandemie geholfen. War bisher gut damit gefahren und hatte sich auch nicht bedauert. Es war ihr gar nicht aufgefallen, daß sie außer gelegentlichen Gesprächen mit den Nachbarn, die sie im Stiegenhaus oder vor den Postkästen traf, kaum Kontakt hatte. Mit der Frau Jelleweil, die nebenan wohnte und von der sie nicht genau wußte, ob sie Musiklehrerin oder Architektin war, plauderte sie manchmal oder hatte ihr einmal mit einem Ei oder einer Packung Milch ausgeholfen, weil sie vergessen hatte, einzukaufen, wofür sie sich mit einem Stück Kuchen revanchiert hatte. Ihr Sohn Jürgen, ein dreizehnjähriger Junge, half ihr manchmal beim Tragen ihrer Einkaufstaschen oder war für sie einkaufen gegangen, als sie im vorigen Winter eine Grippe hatte.

„Das war es!”, dachte Flora Faun mit schelmischem Lächeln und stellte den Frühstücksteller und die Tasse in den Geschirrspüler.

„Das ist es, liebe Flora und wird so bleiben! Deine Bezugspersonen sind deine Bücher! Dein Jugendfreund heißt Mortimer Morris, ist vor fünfzig Jahren nach England verschwunden, wird dort wahrscheinlich bis zu seinen Tod verbleiben und ich werde jetzt duschen und die Zähne putzen. Mich anziehen, die Einkaufsliste schreiben, nach dem Aufräumen das Mittagessen kochen und mich dann mit einem Buch in den Stadtpark setzen oder spazierengehen! Das ist es, liebe Flora! Da muß ich mich nicht sorgen und dir, lieber Mortimer, wünsche ich alles Gute und ein langes Leben, wenn du es noch hast!”, dachte sie und zuckte zusammen, als aus der Nachbarwohnung Klaviertöne drangen. Eigentlich war es nur ein Klimpern. Ein mehr oder weniger lustloses vor sich hin Spielen und sie erinnerte sich, daß es Samstag und kein Schultag war. Der dreizehnjährige Jürgen war zu Hause und hatte seine Klavierstunde. Da fiel ihr ein, daß er sich das letzte Mal, als sie ihn im Stiegenhaus getroffen hatte, bei ihr beschwerte, daß seine Mutter ein Wunderkind aus ihm machen wollte.

„Denn wissen Sie, mein Vater, den ich nie gesehen habe, ist ein berühmter Pianist, der in London, New York, Tokyo oder sonstwo auftritt! Seinen Wohnsitz hat er in Zürich. Da auch eine Frau, sowie zwei Kinder und meine Mam hat er vor vierzehn Jahren nach einem Konzert, als sie ein Autogramm von ihm wollte, verführt und sitzen gelassen! Jetzt will sie partout ein Wunderkind aus mir machen, um ihm zu imponieren! Daraus wird nichts! Das kann ich Ihnen verraten, denn ich werde statt eines erfolglosen Klavierspielers ein berühmter Fußballer!”, hatte er behauptet und war aus dem Haus gestürmt. Jetzt hörte sie sein lustloses Klimpern, zu dem ihn, wie er sich beschwerte, seine Mutter mit der Drohung, ihm sonst das Taschengeld zu streichen, zwang und sie zuckte noch einmal die Achseln, weil sie nicht wußte, ob es sich bei Agathe Jelleweil, die sie auf Anfang vierzig schätzte, um eine Architektin oder eine Musiklehrerin handelte? Das konnte sie sie, wenn sie sie das nächste Mal traf, fragen und hatte damit schon die gewünschten sozialen Kontakte, um nicht zu vereinsamen und in keine Depression zu fallen, die sie maskiert in eine Arztordination zwang, dachte sie ein wenig spöttisch und ging ins Bad.