Nika, Weihnachtsfrau oder ein Dezember

Die achtundzwanzigjährige Germanistikstudentin Nika Horvath verdingt sich im Dezember prekär als Weihnachtsfrau, mit einem roten Mantel, weißem Kragen und einer rotweißen Nikolomütze, auf der Mariahilferstraße, um für ein Kaufhaus Werbezettel zu verteilen und den Kindern Zuckerln und Schokoladestückchen in den Mund zu schieben. Dabei kommt sie in Kontakt mit Passanten, Käufern, Flüchtlingen, Angepassten und Ausgeschlossenen und ein Adventkalender der besonderen Art eröffnet sich.

Nika, Weihnachtsfrau oder ein Dezember

Dienstag, 1. Dezember

Es war Punkt sieben als der Wecker schrillte und Nika Horvath aus süßen Träumen schreckte. Das heißt, so süß waren sie nicht gewesen, sondern eher verwirrend, wie sich die achtundzwanzigjährige Germanistik-Studentin erinnerte, die hochfuhr, sich mit der Hand eine ins Gesicht gefallene Haarsträhne zurückschob und „Verdammt, verdammt!”, murmelte. Auf den Wecker blicken, der immer noch seinen schrillen Klingelton von sich gab und damit die letzten Traumreste aus ihrem Gedächtnis trieb, so daß sie sich gerade noch erinnern konnte, daß sie auf einen Berg gestiegen war, eine große Portion Schokoladetorte essen hatte wollen und von einem jungen Mann mit einem Wuschelkopf voll der schönsten braunen Haare angesprochen worden war.

„Verdammt, verdammt!”, wer riß sie aus ihren schönen Träumen? Wer hatte den Wecker gestellt, um sie an einem Dienstag um Punkt sieben aus dem Schlaf zu scheuchen, was eine Germanistin, die an einer Dissertation über Thomas Bernhard schreibt, sonst aber arbeitslos war, so gar nicht brauchte, denn vor neun Uhr morgen war das Institut geschlossen, da ließen sich weder ihr Doktorvater, Professor Lackner, noch Carola Schneider, die Institutssekretärin blicken. Sie konnte weiterschlafen und von dem Schönling träumen, der sie sicher in der Berghütte auf eine große Portion Sachertorte mit viel Schlagobers einladen, sie verliebt anblicken und ihr zärtliche Sätze ins Ohr flüstern würde, weil sich eine an ihrer Dissertation arbeitende Germanistin an einem Dienstagmorgen keine solche leisten kann. Man konnte am ersten Dezember aber höchstwahrscheinlich auch nicht mehr auf einen Berg klettern und dort schöne, spendable junge Männer mit braunen Wuschelköpfen kennenlernen, dachte Nika schon etwas munterer geworden weiter.

Hatte den Wecker abgestellt und auf den Kalender geschaut, der an der Schlafzimmerwand befestigt war. Dienstag, erster Dezember, soweit war sie schon gewesen. Daneben hing der Adventkalender, den sie am Freitag von einem Kaufhaus auf der Mariahilferstraße mitgebracht hatte. Wenn heute der erste Dezember war, mußte sie das erste Fenster öffnen und sich an dem Bildchen freuen, das dort zu sehen war. Das hatten sie und ihre Schwester Ruth getan, als sie kleine Mädchen waren. Sie konnte sich noch gut an die Schokoladestückchen erinnern, die hinter dem Fenster zu entdecken waren. Im Kaufhaus-Advendtkalender war dagegen ein rosaroter Stöckelschuh zu bewundern. Das passte vielleicht zu dem wirren Traum mit dem Wuschelkopfmann oder auch nicht, denn mit einem rosaroten Stöckelschuh konnte man keinen Berg erklimmen. Dazu brauchte man Kletterstiefel und die waren vielleicht hinter einem späteren Fenster versteckt. Die Mutter hatte ihnen als Kinder stets gepredigt, daß man nicht so gierig sein durfte, sondern geduldig ein Fenster nach dem anderen zu öffnen hatte. Jeden Tag ein Neues, bis das Größte mit der Zahl vierundzwanzig an die Reihe kam. Hinter dem ein Christbaum mit bunten Weihnachtskugeln und brennenden Kerzen zu sehen war oder ein dicker Weihnachtsmann mit einem weißen Rauschebart und einer roten Mütze auf dem Kopf.

„Rote Weihnachtsmütze!”, klingelte es in Nikas Hirn und ihr Blick war auf den Boden gefallen, wo eine solche zu sehen war, die vom Sessel gerutscht sein mußte, als sie daran vorbeigestürzt war, um das erste Fensterchen zu öffnen. Auf dem Sessel lag, nicht zu übersehen, ein ebensolcher mit weißem Kunstpelz besetzter Weihnachtsmannmantel. In Nikas Hirn schrillte es erneut. Sie war vollends wach geworden, rannte im Nachthemd und mit nackten Füßen in ihre kleine Küche, um den Kaffeeautomaten einzuschalten. Wasser in den Container gießen und dann ins Badezimmer, um sich zu waschen und die Zähne zu putzen. Sie mußte sich anziehen und auf die Mariahilferstraße hetzen. Denn sie hatte einen Job. Vom ersten bis zum vierundzwanzigsten Dezember. War in dieser Zeit offizielle Weihnachtsfrau der Kaufmannschaft und mußte in dieser Funktion mit der roten Mütze, dem roten Mantel und einem braunen Jutesack, in dem sich sowohl Werbeflyer als auch ungesunde süße Zuckerln und Schokoladestückchen befanden, auf der Mariahilferstraße entlangmarschieren und Weihnachtsstimmung verbreiten, um die Kauflust der Konsumenten und Konsumentinnen zu erhöhen, wie das in der Werbesprache so hieß. Sie hatte sich den Wecker selbst gestellt, um am ersten Arbeitstag pünktlich zu erscheinen und keinen Ärger mit ihrem Chef Klaus Seidler zu bekommen, der sie, als sie am Freitag bei ihm gewesen war, um ihren Arbeitsvertrag zu unterschreiben und das Weihnachtsfraukostüm entgegenzunehmen, damit sie es zu Hause eventuell ändern und auf ihre Damengröße anpassen konnte, süffisant angegrinst hatte. Richtig widerlich hatte er das getan, wie sie sich erinnern konnte. Gar nicht so süß, wie ihr Traummannwuschelkopf, der sie vorhin auf der Berghütte sicher auf ein Stück Sachertorte mit einer Portion Schlagobers eingeladen hätte, wenn der widerliche Wecker nicht sein Tun unterbrochen hätte. Aber widerlich war Klaus Seidler, der Kaufhausabteilungsleiter, der für die Weihnachtsfrau zuständig war, gewesen, denn er hatte sie süffsant angegrinst und „Da freuen Sie sich wohl, Frau Magister?”, gefragt und hätte ihr wahrscheinlich auch auf den Po geklopft, wenn sie nicht schnell ausgewichen wäre, um ihm keine Gelegenheit zur sexuellen Belästigung am Arbeitsplatz zu bieten, die, wenn sie sich nicht irrte, in den politisch korrekten Zeiten, in denen sie lebte, verboten war. Sie könnte ihre Schwester Ruth, die Juristin war und das wissen würde, danach fragen. Hatte aber keine Zeit dazu, denn sie mußte vor neun im Kaufhaus erscheinen, um den Jutesack mit den Zuckerln, den Schokoladestückchen und den Werbeflyern entgegenzunehmen, um keinen Ärger mit Klaus Seidler zu bekommen, der ein Widerling war und ihr unsympathisch, was sie ihm aber genausowenig sagen durfte, wie „Benehmen Sie sich besser!”

Oder das schon, wenn er ihr wirklich auf den Po klopfte oder in die Wange zwickte. Aber das hatte er, als sie in seinem Büro gewesen war, nicht getan. Er hatte sie nur blöd angegrinst und hinzugefügt, daß er sie, weil sie ein hübsches Gesichtchen hätte und ein verdammt schönes Mädel sei, unter vierundneunzig anderen Bewerberinnen ausgesucht hatte und sie sich deshalb freuen durfte, die nächsten dreieinhalb Wochen als Weihnachtsfrau verkleidet auf der Straße zu posieren.

„Da stimmt dann das Konto wieder und es gibt etwas zu Essen!”, hatte er in seinem süffisanten Sprech geleiert, sie vielleicht noch ein wenig widerlicher angegrinst und sich, nachdem er ihren strengen Blick gesehen hatte, nach ihrer Dissertation erkundigt und wissen wollen, ob sie mit ihrem brotlosen Orchideenstudium eine Stelle finden würde?

„Wissen Sie, Frau Magister, daß die meisten Ihrer Konkurrentinnen, die Sie mit Ihrem schönen Lärvchen und ihren blauen Augen geschlagen haben, ebenfalls solche Studien betreiben? Soziologie, Psychologie, vergleichende Literaturwissenschaft, Politologie und was auch immer haben sie studiert oder waren damit schon fertig und sind jetzt sicher sehr enttäuscht, daß meine Wahl auf Sie gefallen ist!”, hatte er behauptet und erneut seine Hand gehoben. Wieder war sie rechtzeitig ausgewichen und hatte versucht ihn trotzdem einigermaßen höflich anzuschauen.

„Germanistik, Herr Seidler!”, solcherart geantwortet und den „Herrn Magister!”, weggelassen. Denn Herr Widerlich hatte nicht studiert, sondern höchstens eine Handelsschule oder eine Bürolehre absolviert. Verdiente aber höchstwahrscheinlich das Zehnfache wie sie und das nicht nur drei Wochen vor Weihnachten, sondern jedes Monat mit dreizehntem und vierzehntem Gehalt, während sie sich ihre Dissertation mit Gelegenheitsjobs finanzierte und wenn es gar nicht anders ging, um ein Stipendium oder Sozialhilfe ansuchte, die jetzt Grundsicherung hieß und noch viel schwerer zu bekommen war.

„Meine Dissertation schreibe ich über Thomas Bernhard, kennen Sie den?”, hatte sie gefragt und sich nicht gewundert, wenn Herr Widerlich blöd geschaut und „Thomas, wer?”, geantwortet hätte. Diese Freude hatte er ihr aber nicht gemacht, sondern genauso stumpfsinnig nach einer Weile „Das ist doch der mit dem Heldenplatz” und der „Österreichbeschimpfung?”, zurückgegeben.

„Nein, Frau Magister, ich bin nicht so negativ eingestellt! Ich bin ein aufrechter Österreicher, obwohl man sich heute über die vielen Ausländer, die die Mariahilferstraße überschwemmen und die Fußgängerzone, die uns die Grünen aufgeschwatzt haben, sehr ärgern kann! Aber jetzt zu Ihrem Job!”, hatte er weitergesprochen und ihr genau erklärt, daß sie jeden Wochentag vor neun anzutanzen hatte, um ihren Sack mit den Flyern und den Süßigkeiten entgegenzunehmen und sie am ersten Tag etwas früher kommen solle, damit sie sich alles einprägen und nichts vergessen würde! Deshalb hatte sie den Wecker um sieben gestellt, roch schon den Kaffeeduft und angezogen hatte sie sich auch. Jeans und einen blauen Pulli. Den Weihnachtsfrauanzug, der natürlich paßte, da hätte sie ihn in der Garderobe lassen können, würde sie in die Tragetasche zurückstecken und in der U-Bahn auf die Mariahilferstraße transportieren. Sie würde pünktlich kommen, wie sie das auch tun würde, wenn sie demnächst einen Job als Lehrerin, einen halben Assistentenposten oder in einem Verlag als Volontärin beginnen würde. Aber das würde sie noch nicht. Erst war die Dissertation angesagt und bis zum vierundzwanzigsten Dezember der Job auf der Mariahilferstraße, um sich die leisten zu können. Professor Lackner würde sie in der nächsten Zeit in der Sprechstunde vermissen und das Dissertantenseminar, wo er sie zu sehen wünschte, würde sie auch verpassen und dort erst wieder im Jänner antanzen. Aber dafür waren die Weihnachtsgeschenke gesichert und der Weihnachtsbraten und das war auch sehr schön. Wenn alles klappte, würde sie sich zu Weihnachten eine Sachertorte backen und brauchte keinen Traumwuschelkopf auf einer Berghütte, der sie dazu einlud. Sie würde Weihnachtskekse statt der Torte backen. Vanillekipferln, Linzer, Spitzbuben, Rumkugeln, denn sie war eine Süße. Da hatte Widerling Seidler recht und jetzt in bequemes Schuhwerk, statt in rosarote Highheels mit ungesunden Absätzen schlüpfen und zum Frühstück würde es eine Portion Fertigmüsli mit Joghurt geben, in das sie sich, wenn vorhanden, einen Apfel und eine Banane schneiden konnte. Also in die Küche, den Kaffee in die Tasse gießen, Milch dazugeben. Das Fertigmüsli in die Glasschüssel und auf die Uhr schauen. Dreiviertel acht! Sie mußte sich beeilen, würde zu spät kommen und Herrn Widerling verärgern oder auch nicht, denn sie war eine schnelle Esserin. Also das gesunde Müsli höchst ungesund in sich hineinschaufeln. Das Kostüm in den Kaufhaussack stecken, die Jacke anziehen, Sack und Rucksack nehmen und ab die Post. Das Geschirr würde sie am Abend waschen, wenn sie nicht zu müde war. Am Gang traf sie ihre Nachbarin, Laura Augustin, die, obwohl sie es sich als Pensionistin leisten konnte, auszuschlafen, auch schon unterwegs zu sein schien.

„Guten Morgen!”, grüßen und schnell die Stufen hinunterlaufen. Lift gab es keinen in dem Altbauhaus, in dem sie als Studentin eingezogen war und Laura Augustin war, war ihr noch eingefallen, eine Büchersammlerin. Also würde sie sicher zu dem Bücherschrank, den es in der Nähe gab, schauen. Dazu hatte sie keine Zeit. Sie mußte zur U-Bahn, die Station Längenfeldgasse lag in der Nähe, dann in die U 3, um bis zur Neubaugasse zu fahren, wo sich die Mariahilferstraße und das Kaufhaus befanden.

„Geschafft, geschafft!”

Putzfrauen und andere Gelegenheitsarbeiter waren gleich ihr unterwegs, auch ein paar verspätete Schulkinder, die eigentlich um acht in der Klasse sitzen müßten, obwohl die Wissenschaft herausgefunden hatte, daß das viel zu früh und ungesund war. Aber um solch logischen Erkenntnisse schien man sich im Unterrichtsministerium nicht zu kümmern. Das war den Schulexperten wohl egal, wie auch den älteren Leuten, die zwar wahrscheinlich ebenfalls schon Pensionisten waren, sich aber aus Gewohnheit gleich ihr auf dem Bahnsteig drängten. Der war überfüllt und es war schon viertel neun, aber keine U-Bahn in Sicht. Nur eine Frauenstimme war zu hören, die „Achtung, Achtung!”, rief und die Durchsage machte, daß es auf Grund einer Fahrgasterkrankung zu einer Unregelmäßigkeit des Verkehrs und daher zu einer Verspätung kommen würde.

„Da ist wieder einer gesprungen, Fräulein!”, hörte sie die Stimme eines älteren Mannes und nickte automatisch.

„Ein Selbstmörder, wissen Sie, da gibt es soviele, die nichts anderes zu tun wissen, als dem U-Bahnfahrer vor den Zug zu springen und ihn damit zu traumatisieren!”

„Glauben Sie?”, antwortete sie noch immer etwas verschlafen und sah ihn genauer an. Auf Ende sechzig, Anfang siebzig würde sie ihn schätzen. Er trug ebenfalls eine grüne Jacke sowie eine graue Hose und wirkte eher ungepflegt. Seinen Bart hatte er sicher mehr als die drei berühmten Tage nicht rasiert und seine Hände zitterten.

„Ein Alkoholiker, der sich sein Morgenstamperl holt!”, dachte sie politisch unkorrekt und noch bevor sie dazu kam, sich dafür zu schämen, stellte er sich ihr als „Max Schröder!” vor und fügte hinzu, daß er ins Krankenhaus zur Kontrolle müsse! Sie dachte „Scheiße!” und hätte fast „Entschuldigung!” gesagt, was wieder unpassend wäre. Denn er hatte ihre unkorrekten Gedanken nicht gehört oder doch geahnt, denn er fügte prompt hinzu ”Ich habe Parkinson und bin nicht betrunken, falls Sie das gedacht haben! Sie müssen sich dafür nicht genieren und brauchen nicht rot zu werden! Denn das denken die Meisten, daß das Zittern vom Alkohol kommt! Aber ich war immer nur ein schwacher Trinker! Eigentlich Antialkoholiker, wenn man von den gelegentlichen Gläschen zu Weihnachten, zu den Geburtstagen und Silvester absieht! Ich war Lehrer, wissen Sie! Aber jetzt schon lange in Pension! Fast zehn Jahre! Aber ich will Sie nicht belästigen, Sie müssen sicher zur Arbeit oder sind Sie Studentin?”

„Ich schreibe eine Dissertation über Thomas Bernhard, aber jetzt muß ich auf die Mariahilferstraße, denn ich bin die neue Weihnachtsfrau!”, antwortete sie auf ihren Sack weisend. Dann schaute sie auf die Armbanduhr und fluchte neuerlich „Verdammt, verdammt!”, vor sich hin. Halb neun vorbei und Klaus Seidler hatte sie ermahnt früher zu erscheinen, damit sie sich alles ansehen und er sie ihren Kollegen vorstellen konnte. Gab es noch andere Weihnachtsmänner und Weihnachtsfrauen oder meinte er die Verkäuferinnen? Wenn sie schon am ersten Arbeitstag zu spät kam, würde er sie für unpünktlich halten und das mit der Erkrankung oder dem Todessprung für eine Ausrede halten und ihr nicht glauben.

„Wenn Sie Ihren Job als Weihnachtsfrau behalten wollen, Frau Magister, müssen Sie früher aufstehen, Unpünktlichkeit können wir nicht dulden!”, würde er sie mahnen und sich berechtigt halten ihr auf den Hintern zu klopfen. Wieder auf die vierundneunzig anderen Bewerberinnen hinweisen und seine Zweifel äußern, ob er sich richtig entschieden hatte? Aber da kam schon die U-Bahn! Jetzt mußte nur noch die U 3 halbwegs pünktlich erscheinen und sie hatte keinen Ärger, dachte sie erleichtert, beeilte sich einzusteigen, einen Platz zu finden und nicht an den armen Teufel zu denken, der vor die U-Bahn gesprungen war, weil er das Leben nicht mehr auszuhalten glaubte.

Wer das wohl gewesen war?

„Ein Flüchtling höchstwahrscheinlich!”, mutmaßte die alte Frau, die neben ihr Platz gefunden hatte und sich auch mit dieser Frage zu beschäftigen schien. Max Schröder war verschwunden. Sie hatte ihn aus ihrem Gesichtsfeld verloren und keine Lust sich die Klagen einer Pensionistin, die ebenfalls schon unterwegs war, anzuhören, daß es soviele Ausländer gäbe und sie daher zu spät zu ihrem Arzttermin oder zum Einkaufen auf die Mariahilferstraße kommen würde. Mariahilferstraße war die Losung! Sie mußte die U-Bahn wechseln, die diesmal pünktlich kam und mit ihrem Sack den Personaleingang nehmen, in den ersten Stock zu Herrn Widerlich hetzen, anklopfen, freundlich „Guten Morgen, Herr Seidler!”, wünschen und darauf hoffen, daß er nicht merkte, daß es schon zwei Minuten vor neun war. Aber wenn ihr Arbeitsbeginn neun war, war sie nicht zu spät und er konnte ihr nicht auf den Po klopfen, was er, da er hinter seinem Schreibtisch saß, ohnehin nicht schaffte. So murmelte er ebenfalls „Guten Morgen!”, schien ihre Verspätung nicht zu merken oder doch? Denn er schaute auf ihre Jacke und ihre Jeans und wunderte sich, daß sie noch nicht umgezogen war?

„Sie kennen doch die Garderobe, die haben ich Ihnen am Freitag gezeigt, nicht wahr? Also gehen Sie dorthin! Dort befindet sich auch Ihr Arbeitsmaterial. Sie wissen schon, die Zuckerln und die Schokoladestückchen für die Kinder! Die Kaufhausflyer für die Mütter! Husch, husch, dorthin! Den Sack mit den Werbemitteln wird Ihren Herr Jovanovic, den sie dort finden, überreichen und dann im roten Mäntelchen auf die Straße, Frau Magister! Von zwölf bis eins haben Sie Mittagspause! Da können Sie in der Personalkantine essen! Ihre Gutscheinmarken habe ich Ihnen doch gegeben? Zwanzig Stück, für jeden Ihrer Arbeitstage einen und dann wieder bis neunzehn Uhr auf die Straße! Wird Ihnen das nicht zu viel? Das lange Stehen sind Sie wahrscheinlich nicht gewöhnt! Aber dafür bezahlen wir ein gutes Gehalt, Frau Magister und der Weihnachtsbraten ist gesichert!”, wiederholte er ihre eigene Worte und grinste blöd dabei.

„Das wäre es! Die Garderobe und Herrn Jovanovic werden Sie schon finden! Die Personalkantine habe ich Ihnen auch gezeigt!”

Warum hatte er sie dann früher bestellt? Da hätte sie ganz entspannt herfahren können. Von neun bis sieben war ohnehin sehr lang und es würde dunkel sein, wenn sie nach Hause kam! Aber sie hatte es sich selbst so ausgesucht, da hatte er schon recht! Sie mochte Kinder und würde, wenn sie eine Stelle fand, gerne Lehrerin werden. So betrachtete sie den Job als Übung für das spätere Berufsleben.

„Wenn Sie sich nicht auskennen, können Sie mich gerne fragen, Sie wissen, wo ich zu finden bin”, bot ihr Herr Widerlich noch an und streckte ihr die Hand entgegen.

„Dann wünsche ich viel Spaß für Ihren ersten Arbeitstag, toi toi toi! Sie finden sicherlich allein hinaus!”, markierte er den Überbeschäftigten und sie sah auf ihrer Uhr, daß es schon fünf nach neun geworden geworden war.

„Also schnell Herrrn Jovanovic suchen und ins Kostüm schlüpfen, denn Pünktlichkeit, das wissen Sie, ist eine Tugend und die Kunden wollen die Weihnachtsfrau um Punkt neun auf der Straße sehen!”, ätzte er prompt und winkte ab, als sie ihm von dem möglichen Selbstmord und der Verspätung des U-Bahnzugs erzählen wollte.

„Schon gut, schon gut, war nur ein Scherz! Da sind wir schon kulant und keine Erbsenzähler, aber nun zu Herrn Jovanovic und Ihrem Sack!”, sagte er, grinste wieder widerlich und griff nach ihrer Wange, die sie aber, um ihm auszuweichen, schnell wegzog und mit einem vielleicht nicht ganz so höflichen „Auf Wiedersehen!” sein Büro verließ. Herr Jovanovic war bald gefunden. Beziehungsweise kam er ihr, als sie zehn Minuten später im rotweißen Weihnachtsmannmantel und der rotweißen Mütze die Frauengarderobe verließ und das Magazineursbüro suchte, mit einem gefüllten Sack entgegen und erkundigte sich in serbokroatischen Gastarbeiterdeutsch, das er sich wohl vor dreißig Jahren, als er vom damaligen Jugoslawien nach Wien gekommen war, angewöhnt hatte, ob sie Frau Horvath sei?

„Guten Morgen, Weihnachtsfrau!”, sagte er gutmütig lächelnd, hielt ihr den Sack entgegen, erklärte, wo sie gegen Unterschrift Flyer und Süßigkeiten nachfassen konnte und wünschte ebenfalls viel Glück!

„Es ist heute nicht so kalt, da werden Sie nicht frieren und um zwölf haben Sie Ihre Mittagspause! Dann ist es bis sieben nicht so lang! Sie werden es schon schaffen! Ich wünsche alles Gute!”, sagte auch er und so stand sie, um viertel zehn wirklich auf der Straße, griff in ihrem Sack und wußte nicht so recht, wem sie die Flyer und die Süßigkeiten überreichen sollte?

„Hallo, Weihnachtsmannfrau!”, hörte sie eine helle Stimme und sah vor sich ein etwa achtjähriges Mädchen, das Jeans, einen gelben Anorak und rote Zöpfe trug und wunderte sich, daß es nicht in der Schule war.

„Die habe ich erst um zehn, weil zwei Stunden ausgefallen sind! Das heißt, ich kann die Mama besuchen! Die arbeitet hier als Verkäuferin! Hat aber für mich keine Zeit, weil sie die Kunden bedienen muß und ihr Chef schimpft, wenn sie mit mir spricht! Aber es ist so langweilig in der Wohnung! So bin ich früher weggegangen und jetzt stehe ich da wie angegossen, weil ich der Mama keine Schwierigkeiten machen will! Ich bin die Jessica Nikolic! Meine Mama heißt Dragana und arbeitet in der Handschuhabteilung, kennen Sie sie, Weihnachtsmannfrau?”, erkundigte sie sich neugierig. Nika schüttelte den Kopf und griff in ihren Sack.

„Leider nicht, denn es ist mein erster Arbeitstag! Ich habe gerade erst begonnen und bin nur meinem Chef, Klaus Seidler, begegnet! Ist das auch der deiner Mama? Der ist, glaube ich, ein strenger Mann! Willst du ein Stück Schokolade oder ein Zuckerl? Ich habe „Stollwerck” oder „Nimm zwei” zur Auswahl?”

„Vielen Dank, aber vom Zucker bekommt man Karies und muß zum Zahnarzt! Süßigkeiten sind nicht gesund, weißt du das nicht, Weihnachtsmannfrau und weil meine Mama im Kaufhaus arbeitet, darfst du mir auch sicher keine geben und dein Chef wird schimpfen!”, behauptete Jessica Nikolic nun etwas altklug, die mit ihren roten Zöpfen Nika an die „Pippi Langstrumpf” erinnerte. Sie trug aber eine graue Wollmütze und keine bunten Strümpfe.

„Sagen wir, das weiß ich nicht, denn ich kann nicht hellsehen und du hast dich mir nicht vorgestellt! Du bist für mich eine Kundin wie jede andere und ich habe Süßigkeiten für die Kinder im Sack!”, sagte sie und die kleine Jessica grinste.

”Dann bedanke ich mich für die guten Gaben!”

Griff selber in den Jutesack und steckte die Handvoll Naschereien, die sie gefaßt hatte, in ihre Jackentasche.

„Damit ich es bis Mittag aushalte und jetzt schaue ich schnell zur Mama, tue, als würde ich Handschuhe kaufen und bedanke mich für den guten Tip! Vielleicht sehen wir uns wieder, Weihnachtsmannfrau, wenn eine Stunde ausfällt oder wenn am Samstag schulfrei ist, die Mama aber im Geschäft stehen muß! Die schimpft dann sicher, wenn ich sie besuchen komme! Mir wird wahrscheinlich, das weiß ich schon, zu Hause langweilig! Aber die Weihnachtsfrau kann nichts dagegen haben, denn sie weiß nicht, daß ich eine Personaltochter bin! Also danke für den Tip und Tschüß!”, rief die aufgeweckte Kleine, stürmte davon und Nika griff wieder in den Sack, nahm diesmal einen Stapel Flyer heraus, den sie einigen Frauen und einer Gruppe jüngerer Männer in grauen Anzügen und schwarzen Aktenkoffern entgegenstreckte. Dann bemerkte sie beim Kaufhauseingang einen jungen Burschen, der wie einer der Flüchtlinge, von denen man jetzt soviel hörte, aussah, der in eine Jacke eingewickelt da saß und sie anstarrte. Sie nickte ihm unsicher zu, wußte nicht recht, ob sie ihm auch eine ihrer Gaben entgegenstrecken sollte und was Klaus Seidler dazu sagen würde? Dann merkte sie, daß ihr Handy anschlug und ihre Schwester angerufen hatte. Die könnte sie, da sie ebenfalls prekär und unterbezahlt in einer Menschenrechtsorganisation arbeitete und sich derzeit viel mit Flüchtlingen beschäftige, danach fragen. Aber Ruth schien sich nicht dafür zu interessieren und sich auch nicht zu erinnern, daß heute Nikas erster Arbeitstag war, sondern war aufgeregt und außer Atem. Denn sie keuchte, als sie „Es ist etwas Schreckliches passiert, Nika! Stell dir vor, Vera hat gerade angerufen! Die Putzfrau hat in ihrer Praxis einen Toten gefunden! Einer ihrer Klienten ist gestern nicht nach Hause gegangen, sondern hat auf ihrem Klo offenbar einen Schlaganfall bekommen! Die Polizei hat sie, als sie ihre Praxis erreichte, schon erwartet und jetzt muß ich zu ihr, um sie zu unterstützen! Ich melde mich wieder, wenn ich etwas weiß und wir treffen uns auch, wie geplant am Abend, um deinen ersten Arbeitstag zu feiern!”, erinnerte sie sich dann doch.

”Hallo, Weihnachtsfrau, hast du für mich etwas Süßes?”, rief ein jüngerer Mann und machte auch den Anschein, als wolle er ihr auf den Po klopfen. Richtig, das war eine Schwierigkeit, mit der sie wohl zu rechnen hatte und zu erwarten war. Das hatte ihr ihre um sieben Jahre ältere Schwester, die nicht nur Menschenrechtsaktivistin, sondern auch Lesbierin war, mit der Psychotherapeutin Vera Mosebach zusammenlebte und im fünften Monat von einem Joe Prohaska, einem „One Night-Stand”, wie sie betonte, mit der kleinen Zoe-Philipa schwanger war, weil sie auch das Mutterglück erleben wollte, eingeprägt, als sie ihr vor ein paar Wochen von ihrem Adventjob erzählt hatte.

„Da mußt du aufpassen, denn die haben sicher eine Weihnachtsfrau engagiert und keinen alten Mann mit Rauschebart und Vollbauch, um die männliche Kaufkraft anzuheizen! Aber laß dich nicht irre machen, Schwesterlein! Bleibe sachlich und verteile deine süße Gaben!”, hatte sie dann noch geraten und so bemühte sich Nika, das zu sein, lächelte den Burschen so freundlich wie möglich an und streckte ihm einen Flyer entgegen.

„Natürlich! Das Kaufhaus freut sich über seine Kunden! Die Süßgkeiten sind für Kinder und Sie sind schon erwachsen, da muß ich streng sein und darf keine Ausnahmen machen, hat mir mein Chef eingeprägt, tut mir leid!”, sagte sie genauso streng und hielt einem kleinen Buben ein weißverpacktes „Stollwerck-Zuckerl” vor den Mund, der gerade von seiner Mutter vorbeigetragen wurde und damit nicht viel anzufangen schien, sondern erschrocken schaute und zu weinen begann, was Nika selbst erschreckte.

„Vor der Weihnachtsfrau muß man doch nicht weinen!”, brachte sie wenig originell heraus.

„Kevin ist ein wenig schüchtern!”, beruhigte die Mutter.

„Machen Sie sich keine Sorgen! Es liegt nicht an Ihnen und er soll ohnehin nicht soviel Süßes essen! Der Zahnarzt schimpft, wenn er Karies bei ihm entdeckt und der ist ein Freund seines Vaters, der mir das Sorgerecht abluchsen will! Also bin ich froh darüber, wenn der Kleine vorsichtig ist!”, erklärte sie noch weiter und Nika sah wieder zu dem jungen Burschen, der inzwischen eine Decke über seine Schultern gezogen hatte und sie immer noch anstarrte.

„Ich bin Nika, Weihnachtsfrau! Wollen Sie auch ein Zuckerl, wenn der junge Mann vorhin auch Angst vor dem Zahnarzt hat, kann ich es Ihnen trotzdem sehr empfehlen!”, versuchte sie zu locken und hielt ihm, nicht ohne an Klaus Seidler zu denken, ein solches entgegen. Er schien sie nicht zu verstehen. Denn obwohl er sie noch immer anstarrte, gab er keine Antwort und griff auch nicht nach dem süßen Stück, so daß sie die Achseln zuckte.

„Dann nicht!”, dachte und sich erschrocken fragte, ob er vielleicht traumatisiert war? Aber das hatte sie nichts anzugehen! Ihre Aufgabe war es, den Müttern Flyern, den Kindern Süßigkeiten entgegenzustrecken, vor denen dann die Zahnärzte warnten und Ruth hatte vorhin angerufen, weil die polnische Putzfrau ihrer Freundin Vera einen toten Klienten in deren Klo gefunden hatte. Aber auch das hatte sie nicht zu kümmern, weil während ihrer Dienstzeit Privatgespräche höchstwahrscheinlich sowieso verboten waren.