Die Pensionsschockdepression oder Selmas Kopftuch

Als Thekla Morgenstern eines Morgens aufwacht, geht es ihr gar nicht gut. Sie spürt eine Wand vor ihrem Kopf und fühlt sich, wie wenn sie in ein Depressionsloch hineingefal- len wäre.

Als Therapie verordnet sie sich eine Bibliothotherapie-Grup- pe, die ihr ihre Nachbarin, Fritzi Jelinek, die diese zweimal in der Woche in Janusz Warszinskis Pfarre hält, empfiehlt und dann lernt sie noch die fünfzehnjährige Yasmin Bilic kennen, die ebenfalls große Probleme hat.

Hat sie doch der „Stief” aus der Wohnung geschmissen und zur Großmutter geschickt und dann ist noch ihre beste Freundin Selma verschwunden, die Vorzugsschülerin des Polytechnischen Jahrgangs ist, den sie mit ihr besucht, und eigentlich Zahnärztin werden will.

Sie will aber auch ein Kopftuch tragen, kein Schweinefleisch essen und eine aufrechte Muslima sein, was in Zeiten, wo man täglich vom IS-Terrorismus und den Jugendlichen hört, die in Richtung Syrien aufbrechen, gar nicht so einfach ist

Die Pensionsschockdepression oder Selmas Kopftuch

2.

„Ich hasse euch!”, schrie Yasmin Bilic wütend und rannte über die Stufen vom zweiten Stock des Hauses, in dem ihre Großmutter Hausmeisterin war, dabei stolperte sie über den Wasserkübel und den Wischer mit dem sie das Stiegenhaus aufwaschen hätte sollen. Die Großmutter hatte es ihr aufgetragen und die Tante, der Mutter jüngere Schwester, Vesna, die gerade fünf Jahre älter als sie war, war auf der Couch vor dem Fernseher gelegen und hatte ihr teilnahmslos nachgesehen.

„Sie ist ein faules Stück!”, hatte sie sie zu der Großmutter ätzen hören.

„Der Radu wird schon gewußt haben, warum er sie uns schickte! Sie hat keine Manieren und ihre Schwester hat sie auch beklaut!”

Was nicht stimmte. Sie hatte das Halsband, das ihre Stiefschwester Bijana suchte, nicht genommen. Vielleicht war es einer der kleinen Brüder gewesen, aber die nahm der Stief in Schutz. Die waren sein ein und alles, während sie das schwarze Schaf und an allem Schuld war, weil sie nur die Tochter ihrer Mutter war, der lieben Mama, die sie zwar zu beschützen versuchte, sich gegen Radu aber nicht durchsetzen konnte. Niemand konnte das. Bijana, die Tochter aus des Stiefs erster Ehe, wickelte ihn zwar gekonnt um den Finger, aber sie blieb übrig und bildete nicht zum ersten Mal den Streitgrund zwischen ihm und ihrer Mutter. Die sich nicht wehren konnte und mit Tränen in den Augen nachgegeben hatte, als der Stief vorschlug, sie zur Strafe bei der Großmutter einzuquartieren.

„Das ist vielleicht besser, Yasmi!”, hatte sie zu ihr gesagt und ihr ein Handy und einen Zehneuroschein in die Hand gedrückt.

„Da hast du mehr Platz und mußt nicht mit Bijana das Zimmer teilen. Die Oma wird sich um dich kümmern und ich komme jeden Nachmittag nachschauen, wie es dir geht!”

„Scheiße!”, fluchte Yasmin bitter und schnupfte auf, als sie den Wasserkübel zur Seite gestoßen, das Haus\-tor geöffnet hatte und aus dem Haus gerannt war. Sollte Vesna die Bescherung aufwischen oder die Großmutter, die die Hausbesorgerin war und zu deren Aufgaben es zählte, das Stiegenhaus aufzuwaschen. Die Großmutter hatte sie zwar bei sich aufgenommen, das heißt, auf der Couch in Vesnas Zimmer schlafen lassen, wo sie auch nicht mehr Platz als bei Bijana hatte, schien sich dafür aber zu erwarten, daß sie ihre Arbeit übernahm, während Vesna mit einer Packung Chips träge vor dem Fernseher lümmelte und sie faules Stück nannte. Dabei war sie selber ein faules Stück! Denn sie war schon mit der Schule fertig, hatte aber keine Arbeit und saß den ganzen Tag vor dem Fernsehapparat. Sollte sie doch das Haus putzen! Yasmin war keine unbezahlte Arbeitskraft! Mußte auch ihre Hausaufgaben machen, damit die Fachlehrerin im Poly nicht schimpfte und sie genauso zum Direktor schickte, wie sie es bei Selma getan hatte, dachte sie und fühlte Tränen in sich aufsteigen, die nicht nur der Großmutter und dem Stief galten, sondern auch ihre Angst um ihre Freundin ausdrückten. Denn Selma war heute nicht in die Schule gekommen. Gestern war sie dort gewesen, mit demselben blauschwarzen Kopftuch, das sie seit einigen Wochen regelmäßig trug, seitdem Selma, die früher ganz normal gewesen war, plötzlich fünfmal am Tag zu Beten angefangen hatte und nicht mehr mitturnen wollte. Das hatte die Fachlehrerin aufgeregt und ihre Mutter in die Sprechstunde geholt, der sie im Beisein des Direktors erklärt hatte, daß sie eine Integrationsschule wären, in der das Tragen von Kopftücher nicht erwünscht sei und Selma mitturnen müsse und sie, wenn sie beten wolle, das zu Hause tun solle, aber nicht im Unterricht, weil das den Integrationsgedanken störe oder, wie die Sätze lauteten, die der Direktor und die Fachlehrerin, seit kurzem ständig hinunterleierten, wie es auch der junge hübsche Integrationsminister, den sie manchmal im Fernsehen sah, wenn Bijana oder Vesna sie an diesen ließen, tat. Selmas Mutter, eine eingeschüchterte Frau, die es seit ihrer Scheidung schwer hatte, ihre zwei Kinder zu ernähren und mit der Familie zurechtzukommen, hatte verschreckt genickt und dem Direktor versichert, daß Selma selbstverständlich mitturnen dürfe und sie unter Tränen gebeten, das Kopftuch nur zu Hause zu verwenden, wenn es in der Schule verboten war. Daß die Mütter immer alle weinen mußten und sich gegen ihre Männer nicht durchsetzen konnten! Ihre konnte das beim Stief nicht und Selmas Mutter brachte es beim Direktor nicht zusammen, der ihr streng erklärt hatte, daß man sich in einer Integrationsschule an die Regeln des Zusammenlebens halten müsse und sie dafür sorgen solle, daß Selma morgen ohne Kopftuch kam, weil er sie sonst dem Jugendamt melden würde und sie Strafe zahlen müsse, wenn sie die Integrationsregeln verletze. Die Mutter hatte wieder genickt und weitergeweint, wie Selma ihr erzählt hatte. Aber Selma, die viel mutiger als sie selber war, hatte sich nicht an die Regeln gehalten und war wieder mit einem Kopftuch in den Unterricht gekommen. Eigentlich verstand sie gar nicht so genau, warum die Fachlehrerin sich aufgeregt und Selma wegen einer an sich so harmlosen Sache zum Direktor geschickt hatte und heute war Selma nicht in die Schule gekommen, was sie, da sie sich noch mit dem Streit, den sie mit dem Stief gehabt hatte, beschäftigt war, zuerst gar nicht beunruhigt hatte. Sie wird krank sein, hatte sie gedacht oder vielleicht die Schule schwänzen. Aber das tat Selma nicht, denn sie war Vorzugsschülerin und viel braver als sie, was sich, seit sie so religiös geworden war, noch gesteigert hatte. Die Fachlehrerin hatte Selmas Fehlen in das Klassenbuch eingetragen, sich an sie mit der Frage gewandt, ob sie etwas über ihr Fernbleiben wisse und der Klasse noch einmal erklärt, was sie ohnehin schon wußten, daß es Schulpflicht in diesem Land gäbe, sich alle an die Integrationsregeln halten müßten und es seit kurzem Strafen für das unerlaubte Fernbleiben von der Schule gab. Die Klasse hatte gegähnt und Yasmin hatte auch nicht richtig zugehört, hatte sie sich doch noch darüber geärgert, daß die Mutter am Morgen ihre Sachen zur Großmutter gebracht hatte und ihr erklärte, daß sie bei ihr, bis sich der Stief wieder beruhigt hatte, wohnen solle und sie am Nachmittag kommen und sie besuchen werde. Sie hatte darüber nachgedacht, weil sie noch nicht wußte, ob das eine gute oder schlechte Sache war, denn der Stief und Bijana nervten sehr, aber wie das mit Vesna und der Großmutter war, hatte sie keine Ahnung gehabt. Die Fachlehrerin hatte sich allmählich beruhigt und war zum Deutschunterricht übergegangen. Yasmin hatte ihr wieder nicht richtig zugehört, denn sie war nicht so eine Musterschülerin wie Selma, die das meistens tat und auch immer alle Aufgaben fehlerfrei in die Schule gebracht hatte. Schade, daß Selma vor ein paar Monaten so religiös geworden war oder auch nicht. Eigentlich war es ihr egal, weil jeder tun konnte, was er wollte. Nur der Integrationsminister, die Fachlehrerin und der Direktor machten so einen Aufwand darum, weil es in Paris einen Anschlag auf eine Zeitung und eine Synagoge gegeben hatte. Seitdem schwafelten alle davon, daß man in einer Integrationsklasse kein Kopftuch tragen dürfe und, daß alle Mädchen mitturnen und mitschwimmen mußten, als ob das den Anschlag in Paris verhindern hätte können? Das hatte sie nicht ganz verstanden und als sie die Fachlehrerin danach fragte, hatte die nur streng geschaut und von ihr verlangt, daß sie nicht so frech sein solle. Dabei war sie nur neugierig gewesen und hatte eigentlich gedacht, daß man das in einer Integrationsschule sein sollte. Sie war auch nicht religiös, hatte nicht den Wunsch ein Kopftuch aufzusetzen und fünfmal am Tag zu beten, was ihr viel zu anstrengend wäre. Aber wenn Selma das wollte, sollte sie das dürfen, hatte sie der Lehrerin sagen wollen. Sich dann nicht getraut, weil sie nicht wollte, daß die die Mutter in die Sprechstunde holte, um sich über ihr freches Betragen zu beklagen, das in einer Integrationssschule sicher auch nicht gestattet war. Die Mutter hatte schon genug Sorgen, weil der Stief sie nicht leiden konnte und Selma würde sich das mit dem Kopftuch selber ausmachen, war sie doch ein mutiges Mädchen, das sich nichts gefallen ließ. Vielleicht war sie deshalb nicht zur Schule gekommen, um dagegen zu protestieren. So hatte sie gedacht und schließlich doch ihr Deutschheft aufgemacht und die Sätze mitgeschrieben, die die Lehrerin auf die Tafel malte und überlegt, ob sie am Heimweg bei Selma vorbeischauen und sie ihr bringen sollte? Aber dann war ein SMS von ihr gekommen, das sie zuerst nicht ganz verstanden hatte und ihr jetzt Angst machte.

„Mach dir keine Sorgen!”, hatte die beste Freundin geschrieben.

„Aber ich komme nicht mehr in die Schule, wenn sie mich dort keine echte Muslima sein lassen! Dann fahre ich nach Syrien, werde einen Krieger heiraten und mit ihm für unseren Glauben kämpfen!”

Das hatte sie erschreckt. Nicht gleich, zuerst hatte sie es von Selma cool gefunden, daß sie sich nichts gefallen ließ und sich wehren wollte. Dann hatte sie wieder den Integrationsminister, diesen feschen Burschen mit dem Milchgesicht und der schneidigen Haartolle im Fernseher gesehen und ihn von Maßnahmen gegen die radikalen IS-Kämpfer reden hören, wie er es jetzt ständig tat und sie hatte eine Ahnung bekommen, was Selma vielleicht vorhatte. Das durfte nicht sein! Das mußte sie verhindern, hatte sie gedacht. Als sie aber darüber nachdenken wollte, wie sie das anstellen sollte, war die Großmutter ins Zimmer gekommen, hatte den Fernseher abgedreht, ihr den Wasserkübel und den Wischer in die Hand gedrückt und ihr aufgetragen, das Stiegenhaus zu waschen.

„Das kann ich nicht, ich muß meine Aufgaben machen, weil die Mama sonst Strafe an den Integrationsminister zahlen muß, wenn ich sie nicht morgen in die Schule bringe!”, hatte sie geflunkert. Die Großmutter hatte wie die Lehrerin zu ihr gesagt, sie solle nicht so frech sein und ihr eine hinuntergeknallt, was ihr zuviel gewesen war. Das hatte sie nicht nötig! Sie mußte sich von der Großmutter nicht schlagen lassen, war das, wie sie aus dem Fernsehen wußte, den Erwachsenen doch verboten und sie mußte auch nicht das Haus putzen! Sie war keine Hausmeisterin und hatte andere Sorgen. Sie mußte Selma suchen, von der sie nicht wollte, daß sie eine ISIS-Kämpferin wurde, beziehungsweise tief verschleiert in einer schwarzen Burka, bei der man nicht einmal ihre Augen sah, mit einem radikalen Macho verheiratet wurde, weil die IS die Frauen nicht kämpfen ließ. Das wollte sie nicht, weil Selma ihre beste Freundin war und nicht, weil es der Direktor nicht gestattete. Der war ihr egal und ihretwegen konnte Selma auch eine Burka tragen und zehnmal am Tag beten, wenn sie das wollte. Aber sie glaubte nicht, daß es ihr in Syrien gut gehen würde. Die Polizei würde auch nach ihr suchen, das Jugendamt und vielleicht sogar der Integrationsminister. Das mußte sie verhindern und nicht das Haus putzen, dazu hatte sie jetzt keine Zeit.

„Ich hasse euch!”, stieß sie daher hervor und die Hand der Großmutter weg. Dann rannte sie mit dem Wischer und dem Wasserkübel aus der Hausmeisterwohnung, hör\-te gerade noch Vesna „Sie ist ein faules Stück!”, keifen, die den Fernsehapparat natürlich wieder aufgedreht hatte. Sie war mit dem Kübel und dem Schrubber in den dritten Stock gelaufen und hatte sogar brav angefangen, das Stiegenhaus zu putzen, dann aber nachgeschaut, ob noch eine Nachricht von Selma gekommen war und als das nicht so war, dem Kübel einen Stoß gegeben, der umfiel und das Wasser über die Stufen fließen ließ und war ohne Schrubber und ohne Kübel aus dem Haus gerannt und wußte jetzt nicht weiter. Wußte nicht, was sie tun sollte, da ihr die Mutter, wie sie schon ahnte, nicht helfen würde können und der Lehrerin und dem Direktor konnte sie das SMS erst recht nicht zeigen, weil die dann sicher die Polizei holen würden, um Selma am Flughafen verhaften zu lassen, was sie auch nicht wollte. Was also tun? Das Leben war nicht leicht, wenn man Fünfzehn war, die beste Freundin verschwunden und sich die Mutter mit dem Stief ihretwegen zerstritten hatte.