Beim Sterben sollte man zu Hause sein

Der vorliegende Text ist im Rahmen des National Writing Months, einem kreativen Schreibprojekt aus Amerika, das 1977 von Chris Baty ins Leben gerufen wurde, entstanden, bei dem sich inzwischen weltweit tausende Schreiberinnen und Schreiber vor ihren Laptop setzen, um vom ersten bis zum dreißigsten November einen Roman von fünfzigtausend Worten zu verfassen:

Die fünfundneuzigjährige Lea Weißensteiner, gewesene Ghostwriterin und Volkshochschuldozentin hat ein Problem mit ihrem Leben, bzw. mit dem Sterben, das sie nicht zu schaffen scheint, obwohl sie sich das sehr wünscht.

Während der achtzig- oder vielleicht doch schon hundertjährige Medienzar Kasimir Konstantin sich in seiner Nobel-Seniorenresidenz „Zum ewigen Leben” auf ein solches mit grünem Tee, gesundem Lebensstil, Nordic Walking, Vitaminen und Mineralstoffcocktails einzustellen beginnt.

Die Personen und die Handlung sind erfunden.

Prolog

Lieber Leo!

Wenn du diese Zeilen liest, wirst du deinen achtzehnten Geburtstag feiern und ich lange schon gestorben sein, wie wahrscheinlich auch dein richtiger Vater, Kasimir Konstantin, Isabella Ilahy, die einmal eine berühmte Burgschauspielerin war, Frau Kommerzialrat Steinhuber, sowie Primar Wallner. Du wirst vor deiner Matura stehen oder schon ein Studium begonnen haben und dich erstaunt fragen, was du mit dem Brief einer alten Frau anfangen sollst, die vor siebzehn langen Jahren, die Nachbarin deiner Mutter war? Aber vielleicht hat die und deine Tante Tina dir von alldem auch erzählt? Ich weiß es nicht und führe nur den Auftrag aus, den ich von K und K bekommen habe. Seine Biografie soll ich dir an diesem Tage übermitteln, hat er mich in dem Brief, den mir Primar Wallner nach seinem plötzlichen Schlaganfall im Cafe Servus übergab, gebeten, in der nicht nur die Fakten seines Lebens, sondern auch die seines Freundes Eduard, deines Vaters, enthalten sind, was ich hiermit tue und dir auf diesem Weg alles Gute zum Geburtstag und für dein weiteres Leben wünsche, kleiner Leo, der jetzt groß geworden ist und den ich, in seinem zweiten Lebensjahr einige Zeit begleiten durfte! Du erinnerst dich natürlich nicht daran und hast die alte Dame längst vergessen, die dich an dem Morgen, als sie aufwachte und höchst unzufrieden war, daß sie nicht sterben konnte, am Gang getroffen hat, als du gerade die Stufen hinunterklettern wolltest. So hat alles angefangen! Ich habe dich, deine Mutter, deine Tante Tina, dann auch Kasimir Konstantin und all die anderen kennengelernt, die in dem Buch vorkommen. Wie du dich auch nicht mehr an den Abend erinnern wirst, als deine Tante mit einem Gymnasiasten namens Jo ein Konzert besuchte und ich dich in dein Bettchen legte, während deine Mutter Nachtdienst im „Ewigen Leben”, hatte. Ein dummer Name wirst du jetzt wahrscheinlich denken. Denn man soll nicht ewig leben und wahrscheinlich kann man das auch siebzehn Jahre später noch immer nicht. Deshalb bin ich, wenn du das Buch und diesen Brief in Händen hältst, sicher schon gestorben. Ich würde es mir auch wünschen, weil ich, nachdem die Biografie beendet und druckfrisch auf dem Schreibtisch liegt, wieder etwas einsam bin! Der Vortrag, den mir Primar Wallner, auch ein guter Freund deines Vaters, vermittelt hat, ist vorbei und die Frau Kommerzialrat hat sich nicht wirklich entschließen können, ihr Leben von mir aufschreiben zu lassen. Was ich, wenn ich es recht bedenke, auch nicht will. Auf dich werde ich vielleicht noch einige Male aufpassen, wenn deine Mutter Nachtdienst hat und die Tina im Herbst wirklich aufs Gymnasium geht, denn sie ist ein gescheites Mädchen. Aber dann wirst du in den Kindergarten kommen und K und K, mit dem ich ein paar Nachmittage im Cafe Servus eine heiße Schokolade und ein Gläschen Rotwein trank, ist schon begraben und wird, wie ich mir manchmal denke, mich vielleicht auf Wolke sieben oder neun erwarten, auf der auch meine Großmutter sitzt.

„Beim Sterben sollte man zu Hause sein!”, hat die öfter gesagt, als ich ein Kind gewesen bin. Ich habe über den lustigen Spruch gelacht und ihn nicht verstanden. Jetzt denke ich, daß ich, nachdem die Biografie beendet ist, nicht mehr soviel ausgehen sollte! Aber der Tod läßt sich nicht versäumen, hat die Großmutter gleichfalls gesagt. Das ist eine Kunst, die keiner schafft! Man muß ihn schon erwarten und braucht nicht ungeduldig sein! Ich sehe dich jetzt, wie es deine Tante Tina manchmal tut, unwillig den Kopf schütteln und höre dich „Hat die Alte noch alle Sinne beisammen?”, murmeln und du hast recht, Leo! Ich sollte dich an deinem Festtag nicht mit so unsinnigen Gedanken belasten, die du erst verstehen wirst, wenn du etwas älter bist! Ich wiederhole also meine Geburtstagswünsche, übergebe dir die Biografie, die ich über den besten oder zweitbesten Freundes deines Vaters geschrieben habe, wünsche dir viel Spaß, Aufmerksamkeit und Konzentration beim Lesen, in der du, wenn es dich interessiert, einiges aus unserem Leben erfahren wirst und grüße dich sehr herzlich aus dem Jenseits oder woher auch immer!

Lea Weißensteiner


Alfred Nagl