Trotzdem

"Und Trotzdem" spielt in der Gegenwart. Die Menschen sind jene, die täglich an uns vorbeigehen, die Orte, die Lokale scheinen vertraut.

Aus diesem Potpourri treten in diesem neuen Roman von Eva Jancak einige Frauen als Hauptfiguren hervor: Ludmilla, Helga und Martha.

Ludmilla Engelhofer wird im familiären Spannungsfeld von Tochter Magdalena, die dabei ist, ihren eigenen Weg zu finden, und Vater Leopold gezeigt. Dieser lebt in einem kleinen Ort und baut, achtzigjährig, sein zweites Haus. Sie selbst ist depressiv und inaktiv. Langsam lernt sie, sich von ihrem Aussichtsfenster in der Wohnung zu lösen und zu den Menschen zu gehen.

Martha Mrazek muß damit leben, daß sie Stimmen hört. Sie kämpft seit ihrer Jugend gegen die Befehle dieser Stimmen und hat Erfahrung mit psychiatrischen Therapieformen.

Die jüngere berufstätige Helga Schwarz muß die Diagnose "Krebs" verarbeiten. Sie nimmt sich einen langen Urlaub, um auf einer Reise zu entscheiden, welche Therapie sie annehmen wird. Dem Drängen ihrer Schwester, sich sofort einer Chemotherapie zu unterziehen, gibt sie nicht nach.

Wie die Lebensverläufe weitergehen, bleibt offen. Es gibt jedoch in jedem gezeigten Schicksal begründete Hoffnung und Zuversicht.

Ruth Aspöck

27

Ihr Stimmgewitter trieb es heute wieder einmal ganz besonders arg, wie Martha Mrazek grimmig feststellen mußte. So laut und schrill war das Stimmengewirr in ihrem Kopf, daß nicht einmal die Kopfhörer halfen und auch nicht die Ohrenstöpsel. Mit der Mondscheinsonate hatte sie es schon probiert und mit der Pathetique. Ihren Lieblingsstücken, die meist halfen, das Sprachgewirr in ihr zum Verstummen zu bringen, aber heute übertönten ihre Freunde die Musik, setzten sich hohnlachend über sie hinweg und gaben grölend ihre spöttischen Kommentare. Was sollte da Hilfe bringen? Mother little helpers fielen ihr ein, weil sie gerade auf das Foto ihrer Mutter blickte, das auf dem Schreibtisch stand. Aber nein, das war ja etwas anderes und die Mutter hatte ihr in diesen Situationen auch nicht helfen können. Valium und Konsorten, also das, was die Herren Psychiater üblicherweise als Hilfsmittel aus ihren weißen Kitteltaschen zogen und als Allheilmittel priesen, war auch nicht, was sie brauchte. Das war keine Hilfe und die Stimmen ließen sich davon nicht einschüchtern, wie sie aus früherer Erfahrung wußte. Kurzfristig verstummten sie vielleicht, wenn die Dosis aus den Ä,rztetaschen zu gewaltig war, aber nur, um wiederzukommen und noch boshafter und heimtückischer zu agieren, weil sie sich ja gelähmt von der Chemie gerade dann nicht wehren konnte. So hatte sie gelernt ohne Pillen und Tabletten auszukommen und festgestellt, daß sie es auf diese Art und Weise sogar besser schaffte. Viel besser sogar, denn wenn sie von den chemischen Keulen kampfunfähig am Boden lag, war sie ihren Stacheln und Spitzen erst recht wehrlos ausgeliefert. Da war es besser, wenn sie ihren Verstand einsetzte und mit ihnen sachlich diskutierte oder ihnen mit List und Tücke den Kampf ansagte. Viel besser war das, weil sie solcherart oft schon Siegerin geblieben war. Manchmal jedenfalls. Heute aber nicht. Heute stand es noch unentschieden, das Stimmgewitter war noch in voller Fahrt. Verloren hatte sie aber noch nicht. Auch wenn sie sich im Augenblick sehr matt fühlte. Schachmatt war sie aber nicht gesetzt, noch lange nicht und das würde sie ihren Freunden auch so mitteilen, dachte sie entschlossen und nahm Platz auf ihrem Polsterstuhl, der in ihrem Wohnzimmer stand.

In ihrem Ohrensessel, den sie liebte, in dem sie sich gut konzentrieren konnte und nahm die Kopfhörer ab. Eine Weile entspannen war jetzt gut, mußte sie ja ihre Kräfte sammeln. Die Kopfhörer würde sie weglegen, denn wenn die Stimmen, wie sie es derzeit taten, gegen die Töne anschrieen, ergab das in ihrem Kopf eine solche Dynamik, die sich anfühlte, als wäre er mit Dynamit gefüllt, das jederzeit zur Explosion führen konnte. Und da diese Sprengkraft schmerzhaft und unangenehm war, hatte sie gelernt, daß es in solchen Situationen besser war, scheinbar nachzugeben und zuzuhören.

„So!”, sagte sie jetzt also fast gemütlich, lehnte sich in den Sessel zurück und entspannte sich.

„Was wollt ihr von mir? Was habt ihr mir mitzuteilen? Ich höre zu. Aber beeilt euch, denn sehr viel Zeit habe ich, damit ihr es wißt, nicht. Muß ich ja noch aufräumen und lesen will ich auch etwas, bevor ich schlafen gehe!”

„Ho, ho!”, höhnte es aus ihrem Kopf.

„Die Jammermartha, der Unglücksrabe ist anspruchsvoll und stellt Bedingungen. Also erkläre uns, warum bist du nicht bei dem Auftrag geblieben, den wir dir erteilt haben? Du hast des Bankers Spur verloren und bist nach Hause gegangen? Konrad Klimt heißt er, das weißt du ja, wir haben es dir gesagt und von Lotte Podkornik hast du es ebenfalls gehört. — „Passen Sie auf Ihr Konto auf, Frau Engelhofer!”, hat sie zu der depressiven Ludmilla gesagt. Das hast du gehört, bist du doch im Handarbeitsklub dabei gestanden und deine Ohren waren fein gespitzt. Und dann erwischst du ihn beim Nachhausegehen und läßt ihn in sein Wohnhaus flüchten. Sag uns Unglücksmartha, was ist dir da nur eingefallen, warum hast du nicht besser aufgepasst?”

Martha Mrazek atmete tief durch und war fest entschlossen, sich nicht unterkriegen und von ihren Stimmen in nichts hineinhetzen zu lassen, was sie nicht wollte und nicht gut für sie war. Früher war ihr das manchmal passiert, als sie jung und unerfahren war. Da war es vorgekommen, daß sie mit dem Idealismus ihrer Jugend verbissen eine Spur verfolgte, von der sich dann herausstellte, daß es keine war und ihr nur Schaden brachte. Das waren auch die Situationen gewesen, die sie in die Psychiatrie geführt hatten. Aber heute war sie älter und gescheiter und kannte die Frühwarnsysteme genau. Denn die Psychiater hatten inzwischen dazu gelernt und verteilten nicht nur Depotspritzen und Elektroschocks, sondern sprachen auch von Psychoedukation und Verhaltenstherapie und hatten sie auch einmal zu einer solchen Therapeutin geschickt, die ihr erklärt hatte, auf was sie zu achten hatte, um sich nicht in einen Strudel hineinzudrehen, aus dem sie nicht mehr herauskam. Sie war eine gelehrige Schülerin gewesen und hatte sich auch ein Manual besorgt, in dem das Frühwarnsystem Punkt für Punkt angeführt war.

„Also liebe Freunde!”, sagte sie daher fast gemütlich, lächelte freundlich und entspannte sich.

„Sagt mir, was ihr von mir wollt und erklärt mir bitte, warum ich den Filialleiter meiner Hausbank verfolgen soll, nur weil sich Frau Podkornik Sorgen macht? Mir hat er nichts getan! Mich hat er nicht angesprochen und ich glaube, er kennt mich nicht einmal. Warum soll ich ihm also nachgehen und ihn nicht in sein Wohnhaus lassen? Erklärt mir das bitte, das ist doch absolut unlogisch und wir wollen doch bei der Logik bleiben, das haben wir so abgemacht!”

Das Stimmgewitter gab aber natürlich so leicht nicht nach und dachte nicht daran, sich von Marthas Manual einschüchtern zu lassen, sondern lachte nur noch lauter.

„Eben, Unglücksmartha, Jammerlappen, das ist es ja, was du begreifen sollst! Er hat dich nicht angesehen, während er mit den anderen Frauen scherzt und schäkert. Mit Lotte Podkornik, Ludmilla Engelhofer und den vielen anderen. Die alte Martha Mrazek mit ihren kurzen Haaren und der häßlichen Warnjacke hat er aber übersehen, die interessiert ihn nicht! Das läßt du dir gefallen, Unglücksmartha? Bist du wirklich schon so schwach geworden, daß du kapitulieren willst und klein beigibst?”

Sie waren mit allen Wassern gewaschen, ihre Quäl­gei­ster und so leicht nicht still zu kriegen. Das mußte sie zugeben. Und sie trafen auch den wunden Punkt. Fanden ihn mit erstaunlicher Treffsicherheit heraus. Hatten das auch früher immer getan. Früher, als die Psychiater noch mit Depotspritzen und Elektroschocks hantierten und von der Heilkraft der Psychoedukation keine Ahnung hatten. Aber jetzt wußten sie davon und behandelten es in ihren Vorträgen und sie selbst, die häßliche Martha Mrazek, war geradezu Expertin darin, was ihre Geister vielleicht nicht wußten. Das Therapiemanual lag jedenfalls auf ihren Schreibtisch, weil sie es für den Vortrag brauchte, den sie am nächsten Abend ihrer Selbsthilfegruppe halten wollte. Jetzt würde sie es holen und ihren Geistern laut und deutlich vorlesen. Vielleicht ließen sie sich dann belehren oder wurden wenigstens leiser, damit sie an etwas anderes denken konnte.

„Also, hört mir zu!”, zu ihnen sagen. Betont freundlich und so tun, als ob sie nicht betroffen wäre.

„Ihr habt, glaube ich, nichts verstanden und keine Ahnung. Ich bin zweiundsechzig Jahre alt und der Bankbeamte ist mindestens zehn Jahre jünger. Also bin ich für ihn eine alte Frau. Und er wird, falls er eine Frau suchen sollte, nach einer Jüngeren Ausschau halten. Das ist ganz logisch und selbstverständlich. Und außerdem ist er in diesem Punkt ohnehin versorgt, trägt er doch einen Ehering an seinem Finger und ich —”, sagte sie jetzt wieder betont freundlich und sehr langsam „das merkt euch bitte, damit es zu keinem Mißverständnis kommt, ich suche keinen Mann! Das ist vorbei! Das war früher vielleicht ein Thema, mit zweiundsechzig Jahren ist es das nicht mehr! Was soll ich auch mit einem solchen? Dafür habe ich keinen Platz und keine Zeit, denn jetzt bin ich in der Wohnung allein und kann tun und lassen was ich will, während ich mich früher, wie ihr wißt, gegen meine dominante Mutter nicht durchsetzen konnte. Und deshalb denke ich gar nicht daran, diese Freiheit aufzugeben, um einem Mann die Socken zu waschen. Weder für einen Jüngeren noch für einen Älteren habe ich vor, das zu tun. Dazu fehlt mir die Zeit, die ich für meine Vorträge und meine Selbsthilfegruppe brauche. Das sind meine Bezugspunkte und der Ort meiner Sozialkontakte, wo ich Anerkennung finde. Das andere werde ich mir sparen. Das war früher vielleicht interessant, da habt ihr schon recht. Mit zwanzig zum Beispiel, als ich den Eduard kennengelernt habe, das hat aber nicht geklappt und mit fünfunddreißig hat es mich auch hin- und hergerissen, als ich mich in meinen Psychiater verliebt habe und glaubte, es beruht auf Gegenseitigkeit. Das war unangenehm genug, hat viel Kraft und ein halbes Jahr meines Lebens gekostet. Mit zweiundsechzig passiert mir das nicht mehr und schon gar nicht bei diesem Bankbeamten. In ihn bin ich, und das merkt euch bitte, nicht verliebt und ich habe auch nicht vor, ihn zu verfolgen. Absolut nicht, das fällt mir gar nicht ein. Wenn sich Frau Podkornik Sorgen macht, daß hier etwas nicht stimmt, soll sie die Verfolgung aufnehmen und recherchieren. Bitte sehr, das ist mir gleich. Aber dann wendet euch an sie und gebt ihr eure Ezzes. Ich habe dafür keine Zeit und kein Interesse. Habt ihr das verstanden? Und jetzt ist Schluß! Jetzt habe ich euch lang genug geduldig zugehört. Eure Zeit ist um, denn ich habe noch zu tun. Ich werde mir einen Schlaftrunk zubereiten. Warme Milch mit Honig und einer zerdrückten Banane, damit ihr mich beim Schlaf nicht stört. Vorher muß ich aber noch ein bißchen arbeiten. Ihr wißt ja, ich habe noch nicht aufgeräumt und ihr wißt auch, die Mutter war sehr genau und duldete keine Nachlässigkeit und da ich ihr sehr ähnlich bin, habe ich auch vor, die Wohnung nicht verkommen zu lassen. Sondern alles richtig zu machen, so daß sie mit mir zufrieden wäre, wenn sie das noch könnte und ein bißchen will ich auch noch lesen, bevor ich schlafen gehe. Also bye bye! Habt dank für eure Sorgen um mich. Sie sind aber gar nicht nötig, denn ich passe schon auf mich auf! Denn jetzt bin ich erwachsen und habe das gelernt. Jetzt werde ich es auch wieder mit den Kopfhörern probieren. Denn ihr wißt ja, ich mag die Mondscheinsonate sehr und denke auch, daß sie in meine Stimmung passt. Also seid fair und begnügt euch mit der halben Stunde, die ich euch geduldig zugehört habe. Ihr kennt jetzt meine Meinung, bei der ich bleiben werde, lebt wohl für heute, ich wünsche gute Nacht!”


Alfred Nagl
Last modified: 2008-05-18 22:30:29