Im Namen des Vater

Die siebenundfünzigjährige Online-Journalistin Veronika Sieberer bricht während einer Tagung zusammen, bekommt im Allgemeinen Krankenhaus eine Pankreas-Krebsdiagnose und erfährt, daß sie ohne entsprechende Behandlung wahrscheinlich nur mehr einige Monate leben wird.

Während sie sich nun zwischen Operationen, Chemo- Strahlen und Alternativtherapien zu entscheiden versucht, begleitet sie ihre sechsundzwanzigjährige Tochter Paula durch die erste Schwangerschaft, beginnt für den Enkel Jäckchen, Strampelanzüge, Häubchen, Schühchen zu stricken und kann auch ihrem Nachbarn Hubert Fabian, einem ehemaligen Hutfabrikanten, der in eine Seniorenresidenz übersiedelt ist, helfen, die Reste seiner Kollektion aufzufinden.

Im Namen des Vaters

1.

Als Veronika Sieberer das kleine Palais erreichte, in dem „Das Buch und seine Zukunft” in allen seinen Facetten diskutiert werden sollte, war es nebelig und ein rauher Windhauch streifte ihr Gesicht. Das Wetter war an diesem Donnerstag nicht sehr gnädig, das Tagungsthema aber höchst brisant. Interessant und spannend über die Entwicklung des Buches im Digitalzeitalter zu sprechen, ein Thema, das die Leser auseinandertrieb und so hatte sie auch vor, es in ihrem Online-Magazin aufmerksam aufzuarbeiten und sich auf die Tagung sehr gefreut. Veronika Sieberer, fast siebenundfünfzig, geschieden und Mutter einer sechsundzwanzigjährigen Kindergartenpädagogin, hatte bis vor zwei Jahren mehr oder weniger freiberuflich als Journalistin gearbeitet. Dann war sie von der Print- auf die eigene Online-Plattform gewechselt. Ab da sozusagen eigenverantwortlich unterwegs und würde ihre Leser solcherart in den nächsten Tagen darüber informieren, wie es mit dem Buch in digitalen Zeiten weitergehen würde. So hatte sie es sich vorgenommen und sich darauf gefreut. Jetzt schien es, als würde sie es nicht auf die Reihe bekommen. „Kritisiere dich nicht, sondern denke positiv!”, hauchte Vroni, wie sie ihre Mutter und Robert, der um fünf Jahre ältere Ex, nicht immer mit ihrem Einverständnis genannt hatten und blickte auf ihre Armbanduhr, die sie immer noch am Handgelenk trug, obwohl ein Smartphone in der Tasche steckte. In diesem Punkt war sie Individualistin. Und darüber, daß das eine Online-Journalistin nicht darf, hatte sie auf ihrer Plattform noch nicht diskutiert. Hielt es im Gegenteil sogar für wichtig. Die Uhr an ihrer Hand sagte auch, daß sie sich beeilen sollte, wenn sie die Sitzung von Anfang an mitbekommen, einen guten Platz in den vordersten Reihen und die Eröffnungsreden nicht versäumen wollte. Nur blöd, daß sie heute morgen mit dem falschen Fuß aufgestanden war. Dann lief ihr zwar keine schwarze Katze über den Weg, als sie die Stufen in den ersten Stock des barocken Innenstadtpalais erklomm, aber auf der Straße hatte sie ein rauhes Windchen angeweht und damit offenbar alle Vorfreude zum Verschwinden gebracht. Denn sie konnte nicht leugnen, daß sie sich äußerst unbehaglich fühlte, als sie nach oben lief. Wahrscheinlich hatte sie in der Nacht schlecht geschlafen, die Tagung und die Frage, wie sie sie ihren Lesern präsentieren sollte, hatten sie vielleicht ein wenig unruhig gemacht. Dann hatte sie die beste Aufstehzeit versäumt und so außer einem schnellen Kaffee nicht viel im Magen. Etwas, das nicht zu einer gründlichen Arbeitsplanung zählte und auch nicht häufig vorkam. Heute war es aber geschehen, daß sie sich trotz der Vorfreude matt und schlapp fühlte, als würde ihr Kreislauf nicht richtig funktionieren. Sie sollte noch einen Kaffee trinken. Der Vorraum durch den sie gerade hetzte, war aber schon ziemlich leer. Die jungen Frauen mit den weißen Blusen und den schwarzen Schürzen des Catering-Service, räumten gerade die leeren Tassen weg und ein Herr im grauen Anzug schloß hinter den Letzten, die in den Sitzungssaal strömten, die Tür.

„Shit, Kleister, Scheibenhonig!”, hörte Veronika sich fluchen. Das gehörte nicht zu den Voraussetzungen für einen guten Tag. Sie würde zu spät kommen, keinen Platz finden und wenn sie sich nicht irrte, hörte sie von drinnen schon eine muntere Stimme, den Teilnehmern eine erfolgreiche Tagung wünschen!

„Guten Morgen, Vroni!”, drang hinter ihr die Stimme einer offensichtlich besser gestimmten Kollegin an ihr Ohr.

„Hast du es gerade auch nicht geschafft? Hetz dich nicht! Wir haben nichts zu versäumen! Immer schön eines nach dem anderen, auch wenn die neoliberalen Erfolgscoaches dir etwas anderes zuflüstern sollten!”

Eine junge Frau in einem schwarzen Kostüm und einer Anstecknadel, auf der der Name „Felizitas Wörner” zu entdecken war, fragte nach ihren Namen, suchte ihn auf der Anmeldeliste und drückte ihnen die Tagungsunterlagen in die Hand.

„Ich wünsche einen schönen Tag und eine erfolgreiche Konferenz!”, sagte auch sie und ihr Kollege an der Eingangstür schien „Schnell, schnell!”, zu denken, winkte sie in den Tagungsraum, um sie hinter ihnen zu verschließen.

„Suchen wir uns ein schönes Plätzchen!”, hörte sie Nora Eigner flüstern und spürte ihren keuchenden Atem. So schnell war sie gar nicht gelaufen, eher schneckenlangsam vor sich hingekrochen. Sie fühlte sich, das ließ sich nicht verleugnen, heute nicht besonders wohl. Ihr Puls schien zu rasen, obwohl sie sich gleichzeitig matt fühlte und weil sie früher bei einem Gesundheitsmagazin gearbeitet hatte, wußte sie, daß das nicht zusammenpasste. Bei ihr war es aber so. Pasta aus! So überhörte sie auch Noras aufmunterndes „Wir haben es geschafft!” und ihre Frage, ob sie etwas habe?

„Du schaust so grimmig aus!” und ließ sich auf einen freien Platz gleiten. Legte die Tagungsmappe auf das Pult und suchte nach dem Kugelschreiber.

Das Phone sollte sie auch herausnehmen und versuchen sich auf den Eröffnungsredner zu konzentrieren, der einen spannenden Tag, gute Vorträge und viel Erkenntnis für den Sprung ins kalte Wasser des digitalen Buchzeitalters wünsch\-te.

„Die Wasser sind eher heiß und sprudeln fröhlich!”, zwitscherte dagegen die Festrednerin, eine Frau Professor Grace Melbourne-Stadlinger, die von einer amerikanischen Eliteuniversität kam und schon Jahre Vorsprung im digitalen Buchzeitalter besaß.

„Die Zukunft des Buches ist warm und höchst erfreulich!”, versprach sie in ihrem amerikanischen Geplauder und wies mit dem Stab auf das erste Bild ihrer Präsentation. Veronika spürte Schweißtropfen von ihrer Stirn herunterperlen. Was hatte sie nur? Sie war wirklich nicht gut in Form! Hätte früher aufstehen oder gestern eher ins Bett gehen sollen! Aber wenn sie einen Kreislaufkollaps bekam, würde auch die Tasse Kaffee nicht helfen, die sie in der Lobby versäumt hatte. Ob sie hinausgehen und fragen sollte, ob sie noch eine bekommen könnte? Aber nein, das schaffte sie nicht. Dazu war sie zu unkonzentriert. Wurde ihr doch plötzlich schwarz vor den Augen, obwohl ihr die Frau Professor mit ihrer zwitschernden amerikanischen Stimme, eine besondere Leuchtkraft der zukünftigen Buchlandschaft versprach. Ganz schwarz war es vor ihr geworden und die Zukunft der Buchlandschaft schien vor ihr zu verschwinden, hörte nur noch undeutlich und aus weiter Ferne, Nora aufgeregt „Was hast du, Vroni, ist dir nicht wohl?”, rufen, während die Frau Professor auf eine weitere Folie zeigte, die den Anstieg der verkauften E-Books des letzten halben Jahres im Bundesstaat Oregon demonstrieren sollte. Aber das war ihr ganz egal, ging sie nichts an und war ohnehin schon ihrer Aufmerksamkeit entglitten.