Anna kämpft gegen das Vergessen

Als die fünfundsiebzigjährige ehemalige Buchhändlerin Anna Mittlinger am Morgen aufwacht, hat sie einen fürchterlichen Alptraum gehabt. Hat sie doch geträumt, nackt zur Eröffnung der „Buch-Wien” erschienen zu sein und auch sonst ist nicht mehr alles so wie sonst.

Hat sie doch das Gefühl in letzter Zeit sehr viel zu vergessen und trägt den Verdacht in sich, vielleicht an „Alzheimer” erkrankt zu sein, wogegen sie mit Hilfe ihrer Enkeltochter Johanna anzukämpfen versucht. Einen rumänischen Arzt, der ihr einen Strahlenschutzstecker verkaufen will, lernt sie auch noch kennen und wird von der Hausmeisterin Slavica Jovanovic zu ihrer Opernballparty eingeladen.

Anna kämpft gegen das Vergessen

1.

Als Anna die Augen aufschlug, fühlte sie sich angespannt und war naß vor Schweiß. Da hatte sie wahrhaft einen Alptraum gehabt, über den sie lachen könnte, wenn er sie nicht so mitgenommen hätte, daß sie jetzt noch schwer atmen und zittern mußte. „Die Seele ist ein weites Land. Sigmund Freud hat die Funktion der Träume entdeckt und uns Normalbürgern durch seine Schriften zugänglich gemacht!”, hätte sie, als es „Annas gute Bücherstube” noch gab, zu ihren Kunden gesagt, nach der „Traumdeutung” gegriffen und sie ihnen hingehalten. Die stand auch in ihrem Wohnzimmerregal, in ihrer persönlichen Bibliothek. Sie sollte sich aber das, was sie geträumt hatte, besser nicht deuten oder vielleicht doch? Warum nicht? Sie war immer eine offene Person gewesen, stolz darauf, nichts zu verdrängen, beziehungsweise zu vertuschen und das galt immer noch. Auch wenn sie schon fünfundsiebzig war und seit fünf Jahren in Pension. Vor fünf Jahren hatte sie die „Bücherstube” zugesperrt, beziehungsweise einem Nachfolger übergeben, der sie auch nicht halten konnte. So daß sich jetzt ein Waschsalon in den ehemaligen Räumen befand und hatte sich in den sogenannten Unruhestand der Älteren, in dem eine quirlige Person, wie sie, natürlich höchst aktiv war, zurückgezogen und jetzt das. Jetzt war ihr das passiert. Hatte sie das geträumt, obwohl es eigentlich und ganz genau genommen, gar nicht so beunruhigend, sondern eher lustig war. Oder doch natürlich. Zusammen mit den anderen Erlebnissen der letzten Zeit, regte es sie auf und das war wahrscheinlich auch das, was zu dem Traum geführt hatte. Denn, daß Träume als Bewältigungsmechanismen zu erklären waren, war ihr bewußt. Schließlich hatte sie Sigmund Freud gelesen und in ihrer Jugend auch ein paar Semester Psychologie studiert, bevor sie sich zu einer Buchhändlerlehre entschloß und das Geschäft von Onkel Kurt übernommen hatte. In der letzten Zeit war viel geschehen, was beunruhigen konnte und im Traum hatte sie darauf reagiert. Das war eigentlich ganz einfach, dachte Anna Mittlinger, atmete durch, um sich zu beruhigen und stand auf, um ins Badezimmer zu gehen. Sie hatte, was beruhigen konnte, ihr gelbes Lieblingsnachthemd angezogen, war also nicht, wie im Traum nackt gewesen, als sie sich zur Eröffnung der „Buch-Wien” eingefunden hatte. Was sie aber erst bemerkte, als sie alle anstarrten und mit den Fingern auf sie zeigten, so daß sie rot und nervös wurde und schweißgebadet erwachte.

„Beruhige dich, es ist nichts passiert! Nur ein schlechter Traum und du brauchst dich nicht aufregen! Es ist alles in Ordnung, du bist in Sicherheit!”, redete sie sich zu und schlapfte mit ihren roten Filzpantoffeln zur Tür, um nachzusehen, ob alles gut verschlossen war. Denn das hatte sie vorgestern vergessen und war am Morgen durch die Hausmeisterin geweckt worden, die bei ihr geläutet und sie auf diesen Umstand aufmerksam gemacht hatte. Das war ebenfalls sehr peinlich gewesen, von Frau Jovanovic, die gutmütig gelächelt hatte, bei dieser Unaufmerksamkeit ertappt zu werden. Peinlich und unangenehm, obwohl es die patente Seele und gebürtige Serbin gut meinte, etwas besorgt schaute und sich „Ist alles in Ordnung, Frau Mittlinger?”, erkundigt hatte.

„Das war es oder etwa nicht?”, dachte Anna und rüttelte an der Tür, die verschlossen war. Das war es und sie hatte nichts vergessen. Tat das aber sehr oft in letzter Zeit, so daß sie nicht mehr sicher war, ob das für eine fünfundsiebzigjährige ehemalige Buchhändlerin normal war oder ein Grund besorgt zu sein. Vielleicht doch ein wenig, denn im Traum hatte sie vergessen, sich ein Kleid für die „Buch-Wien”, zu deren Eröffnungen sie noch immer eingeladen wurde und auch gern hinging, anzuziehen. Die Festgäste hatten sie angestarrt. Ihr war es peinlich gewesen. Genauso unangenehm, wie von Frau Jovanovic darauf aufmerksam gemacht zu werden, daß ihre Wohnungstüre offenstand, obwohl man in Zeiten wie diesen auf seine Sicherheit zu achten hatte. Sie hatte es vergessen. Wie peinlich und unangenehm! Frau Jovanovic, die auch nicht mehr die jüngste war und eigentlich schon längst ihren Sohn, als Hausmeisterin vertrat, hatte gelacht und eingeworfen, daß ihr das auch öfter passiere. Sie solle aber aufpassen, weil das gefährlich wäre und in letzter Zeit sehr viel geschehe. Natürlich, selbstverständlich, würde sie das tun. Es war nur ein Versehen, eine Unachtsamkeit. Sie war nicht dement und Alois Alzheimer hatte sie auch nicht aufgesucht. Vielleicht aber doch ein bißchen. Mit Fünfundsiebzig fing man leicht an zu verblöden, wenn man nicht aufpasst und dagegen kämpft. Aber ihr konnte das als ehemalige Buchhändlerin und gebildete Frau nicht passieren. Sie war durch die fünfhundert Bücher, die sie aus ihrer Buchhandlung mitgenommen hatte, als sie in Pension gegangen war und die sie noch nicht alle gelesen hatte, geschützt davor und vielleicht nur ein bißchen unkonzentriert. Aber da war ihr nicht klar, wieso? Denn sie hatte nicht mehr zu tun, als ihre Wohnung aufzuräumen, sich zu Mittag zu kochen, die Bücher zu lesen und damit sie nicht verblödete, zum Stammtisch der Buchhändler, die ebenfalls noch ihre Einladungen schickten oder zur Eröffnung der „Buch-Wien” zu gehen. Früher, als sie mit ihrer Buchhandlung, dem Kampf gegen das E-Book, das ihr die Kunden wegschnappte, beschäftigt war und sie öfter nicht gut schlafen ließ, hätte ihr das passieren können. Aber jetzt war sie nicht im Streß, sondern eigentlich unterbeschäftigt, da sie mit ihrer Buchhandlung auch den Kundenkontakt verloren hatte. Vielleicht war es das, was ihr fehlte? Es konnte schon sein, daß ihr Unruhestand ein wenig zu ruhig war und sie deshalb schlecht träumte, die Türe offen ließ, den Schlüssel verlegte und manchmal auch das Essen anbrannte, weil sie noch rasch ein Kapitel fertig lesen wollte, das sehr spannend war, so daß sie auf den Kochsalat in der Küche vergaß. Das konnte schon passieren. Frau Jovanovic hatte selbst gesagt, daß das auch bei ihr vorkam. Weil sie aber eine gebildete Frau und eine bewußte Geistin war, sollte sie sich alarmisieren lassen und besser aufpassen, damit nichts geschah, wie Frau Jovanovic ebenfalls gemeint hatte. Vorsicht konnte nicht schaden! Aber erst kaltes Wasser über das Gesicht rinnen lassen, die weißgewordenen Haare kämmen, sich einen starken Kaffee zubereiten und in Ruhe frühstücken. Dann konnte sie darüber nachdenken, wie sie den Traum und die offene Wohnungstüre deuten sollte. Konnte ihren alten Freund Egon Welles fragen, der auch schon über Siebzig war, aber immer noch dreimal in der Woche in seiner Privatpraxis ordinierte. Er konnte sie informieren, ob der Traum bedenklich war und sie sich Sorgen machen mußte, an Alzheimer zu erkranken und als demente alte Schachtel zu enden oder ob eine Vergesslichkeit, wie die, ohne Kleid bei der „Buch-Wien” zu erscheinen, im Pensionsalter alltäglich war.


Alfred Nagl