Die Wiedergeborene

Drei Frauen leben oder lebten in einer bürgerlichen Altbauwohnung in der Wiener Währingerstraße. Die Großmutter Rosa, 1915 geboren hat 1938 ihre jüdische Freundin Hannah im Dienstbotenkammerl neben der Küche vor den Nazis versteckt und 1956 eine andere Freundin bei sich aufgenommen, als die 1956 von Budapest nach Wien flüchten mußte, während sich ihre Tochter Marianne 1968 in den Dissdenten Jan verliebte, der der Vater von Theresa ist, die, während Marianne in Prag von Vaclav Havels Tod erfährt, auf einer Demonstration den koptischen Christen Albert Taher kennenlernt und sich entscheiden muß, ob sie die Tradition ihrer Familie aufnehmen und sich in in ihn verlieben will.

Die Personen und die Handlung sind erfunden.

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Theresa Brunner hatte Albert Taher auf der Demonstration kennengelernt, die sich vor der Universität formierte, als sie von der Sprechstunde des Professors kam. Da war ihr der große schlanke Mann mit den dunklen Wuschelhaaren aufgefallen, der mit hungrigen Augen auf ihre Jacke starrte, als hätte er noch nie eine Frau gesehen. Als sie fragend zurückschaute, lachte er verlegen und sagte in etwas holprigen Deutsch, daß er ein Student aus Kairo wäre, der vor drei Monaten nach Österreich gekommen sei.

„Ich hatte Schwierigkeiten mit der Polizei, die mich auf einer Domonstration erwischte, da ist es meinen Eltern lieber gewesen, daß ich mein Studium in Ausland fortsetze, auch weil ein Cousin von mir ums Leben gekommen ist”, hatte er gesagt und hinzugefügt, daß er der Minderheit der koptischen Christen angehöre, die besonders verfolgt würden.

„Ich habe um Asyl angesucht, bin aber aus der Flücht\-lings\-pen\-sion hinausgeflogen, weil es Streit mit anderen gab, sodaß ich keine Wohnung habe!”, sprach er weiter und fragte, ob sie nicht ein Zimmer für ihn wüßte und er bei ihr wohnen könne? Da hatte Theresa schnell den Kopf geschüttelt und erklärt, daß das nicht ginge.

„Denn ich habe zwar eine große Wohnung, weil ich früher mit meiner Großmutter und meiner Mutter dort lebte, kann das aber nicht so schnell entscheiden, weil wir uns nicht kennen!”, gesagt und er hatte genickt.

„Verzeihen Sie, daß ich Sie damit überfalle, aber ich habe Heimweh nach Kairo und den Eltern, war ich doch noch nie allein in einer fremden Stadt!”

Dann hatte er nach ihrem Namen gefragt und wissen wollen, was sie so mache?

So hatte sie sich ihm vorgestellt und erklärt, daß sie Philosophie studiere und mit einer Dissertation über Wittgenstein begonnen habe.

„Ich komme gerade von der Besprechung mit dem Professor!”

Um von ihm zu erfahren, daß er Elektrotechnik studiere, aber auch ein wenig Geige spiele. Sie hatten sich inzwischen in die Demonstrantenschlange eingereiht, die den Ring in Richtung Innenministerium ent\-lang\-mar\-schier\-te.

„Schade, daß ich nicht bei Ihnen wohnen kann, dann könnte ich Ihnen etwas vorspielen und würde vielleicht nicht mehr so oft an meine Eltern denken. Ich bin auch nicht sehr anspruchsvoll, sondern ein guter Hausgenosse!”, hatte er insistiert. Theresa hatte wieder nur den Kopf geschüttelt.

„Das geht nicht, denn ich habe nicht sehr aufgeräumt und auch keine Zeit!”, geantwortet und beschlossen, sich von ihm zu verabschieden, da sie nicht wirklich mitdemonstrieren wollte. Er sah sie nochmals schwermütig an und sagte, er hätte schon verstanden.

„Ich bin aber am Nachmittag öfter im Volksgarten, falls Sie mich kennenlernen wollen, um Ihre Meinung zu verändern, können Sie mich bei den Ägyptern, die beim Theseustempel Hütchen spielen, finden!”

Dann war er weitergegangen, während sie in den Rathauspark abbog, um in die Währingerstraße zu gelangen, wo die Wohnung lag, in der sie mit der Mutter und der Großmutter aufgewachsen war. Vor zehn Jahren hatte die Letztere einen Schlaganfall erlitten und war am Morgen nicht mehr aufgewacht. Da war sie schsundachtzig gewesen, Theresa neunzehn und hatte gerade mit dem Studium begonnen. Die Mutter hatte die Redaktion einer Salzburger Zeitung angeboten bekommen und vorsichtig angefragt, ob es ihr etwas machen würde, wenn sie dorthin übersiedle, worauf Theresa genauso energisch den Kopf geschüttelt hatte und nun schon zehn Jahre alleine in der großen Wohnung lebte, die natürlich Platz für einen ägyptischen Studenten hätte. Da man Fremden gegenüber aber vorsichtig sein soll, hatte sie sich nicht darauf eingelassen. Was gut war. Denn die Mutter hätte sich vermutlich sehr gewundert, wenn sie ihn so einfach mitgenommen hätte. Auch wenn er Asylwerber war und sie, als die Russen 1968 Prag besetzten, einen tschechischen Flüchtling auf der Uni kennenlernte und sich in ihn verliebte. Sie hatte sich bald von ihm getrennt und ihn erst zwülf Jahre später wieder getroffen. Da war er Theresas Vater geworden und hatte eine Zeitlang bei ihnen gewohnt. Es hatte aber Streit mit der Großmutter gegeben, sodaß Jan Horak wieder ausgezogen war. Die Großmutter hatte 1956 eine Freundin bei sich wohnen lassen, die aus Ungarn geflüchtet war und als die Nazis Wien okkupierten, hatte sie eine jüdische Freundin bei sich versteckt, die später nach Israel ausgewandert war. Die Großmutter hätte aber sicher auch geraten, nicht jeden jungen Mann in ihre Wohnung mitzubringen und schon gar nicht einen, der einer mit traurigen Augen auf die Jacke starrt. Aber schöne, schlanke Hände hatte er besessen, mit denen er sie schon nicht vergewaltigt hätte, war sie ja eine sportlich durchtrainierte Frau, die sogar Karate praktizierte. Trotzdem hatte sie „Nein”, gesagt, obwohl sie nicht leugnen konnte, Platz zu haben. Gab es doch vier Zimmer und ein kleines Kabinett neben der Küche, in dem früher das Dienstmädchen geschlafen hatte. Jetzt lagerten dort Schachteln mit alten Fotos und Briefen und das Großmutterzimmer war ihr Arbeitsraum. Das der Mutter war das Gästezimmer, obwohl nur selten Besuch kam. Das hätte sie dem koptischen Christen anbieten können. Hörte man in den Nachrichten doch viel über die ägyptische Revolution und den Verfolgungen, die gerade diese Minderheit erlebte. Er war aber schon verschwunden, obwohl er ihr hinterlassen hatte, wo er zu finden war. Sie war nicht sicher, ob sie das wollte und sollte sich auch keine Sorgen darüber machen, dachte Theresa, als sie die Wohnung aufsperrte. Am besten ging sie in das Arbeitszimmer, um den Laptop einzuschalten und mit ihrer Dissertation zu beginnen. Zwei Stunden könnte sie noch daran arbeiten und überlegte, ob sie Tee kochen sollte, als es an der Türe läutete. Es war natürlich nicht der Ägypter, sondern ihre Nachbarin, die an der Musikakademie studiert hatte, bevor sie Hausfrau und Mutter geworden war und sie mit genauso erwartungsvollen Augen ansah, wie es vorher Albert Taher tat.

„Störe ich, Frau Brunner? Denn ich hätte eine Bitte!”

Nicht direkt!”, antwortete Theresa, um von der ein paar Jahre Älteren zu erfahren, daß heute ihr Geburtstag sei. Sie gratulierte und überlegte, was sie von ihr wollte? Da begann sie zu erzählen, daß sie mit ihrem Mann die Oper besuchen hatte wollen.

„Sie wissen, ich habe Gesang studiert und schon fast mein erstes Engagement, als ich den Werner kennenlernte, mit David schwanger wurde und weil die Sara gleich zwei Jahre später kam, keine Zeit mehr hatte, mein Studium zu beenden. Ich bin auch zufrieden als Hausfrau und Mutter. In die Oper gehe ich aber trotzdem gerne. Deshalb habe ich mir zum Geburtstag einen solchen Besuch gewünscht und der Werner hat es auch versprochen!”, erzählte sie und Theresa überlegte, ob die Nachbarin wünschte, daß sie die Kinder hütete? Da sagte Margit Mayerhofer, daß der Werner, der ein erfolgsversprechender Computerfachmann war, plötzlich zu einem Kongreß nach München reisen hatte müssen.

„Jetzt wollen Sie alleine gehen?”

Die andere schaute sie ein wenig zögernd an und nickte.

„Der Werner hat, nachdem die Aufforderung seines Chefs gekommen ist, auf die Karten vergessen, weil es für seine Karriere wichtig ist und ihn der Vortrag, den er halten soll, weiterbringt. Was ist aber mit meiner Karriere? Ich bleibe als Hausfrau und Mutter zurück, spiele mit den Kindern, bringe sie in den Kindergarten und singe ihnen am Abend ein Gute-Nacht-Lied zum Einschlafen vor, statt Rollen einzustudieren! Wissen Sie, daß es in der Oper Tosca gibt? Das ist die Partie, die ich singen hätte sollen, als ich den Werner kennenlernte und schwanger wurde, sodaß nichts wurde mit dem Engagement. Jetzt habe ich gedacht, daß ich mir eine Regiekarte nehmen könnte, wenn ich jemanden für die Kinder hätte, denn ich muß nicht zu Hause bleiben, wenn der Werner meinen Geburtstag einfach vergißt!”, sagte sie und musterte Theresa, die die Frage, ob sie sich vorstellen könnte, bei den Kindern zu lernen mit einem „Aber ja!”, beantwortete und es sich, als sie eine halbe Stunde später mit dem Laptop und ein paar Unterlagen in die Nachbarwohnung aufbrechen wollte, nicht verkneifen konnte, schnell ins Gästezimmer zu schauen, in dem der ägyptische Asylwerber wohnen hätte können, wenn sie nicht so vorsichtig wäre. Allerdings wäre das nicht so einfach, denn das Zimmer war nicht aufgeräumt. Sie hatte es gleich gesagt und er hatte auch verstanden. Stapelten sich doch ganze Schachtelberge unter dem Bett und auf dem Tisch stand auch eine solche, die im ehemaligen Mädchenzimmer keinen Platz gefunden hatte. Da in diesem Augenblick das Festnetztelefon, das ganz altmodisch auf der Vorzimmerkommode stand und längst abgemeldet gehörte, da sie ja ein Handy im Rucksack hatte, zu läuten begann, schnappte sie sich es energisch und hob den Hörer ab.

„Hallo, hallo!”

Es war, wie nicht erwartet, obwohl sie in den letzten Stunden öfter an sie gedacht hatte, die Mutter, die sich etwas atemlos meldete.

„Bist du es, Resilein?”, nannte sie sie bei dem Namen, den sie nicht hören wollte. Aber die Mutter, die, wie die meisten Journalisten, eine hartnäckige Person und sehr eigenwillig war, ignorierte den Einwand, daß Theresa keine Resi war. In den Zeiten ihrer Pubertät hatte es regelrechte Kämpfe zwischen ihnen über dieses Thema gegeben. Eine Philosophiestudentin von fast dreißig Jahren tut sich das mit einer starrsinnigen Journalistin nicht an, also nur geseufzt und ein wenig unwillig „Liebe Mama, wen hast du denn erwartet? Du weißt, ich lebe in der ehemaligen Dreifrauenwohnung ganz allein”, gesagt, um von der Mutter zu erfahren, daß das nicht immer der Fall gewesen war und in Zeiten, als die Menschen noch nicht so anspruchsvoll gewesen waren, sich mehrere Personen die neunundneunzig Quadratmeter teilten.

„Ich weiß, Mama, ich weiß!”, antwortete Theresa.

„Die Oma und der Papa haben es auch ein paar Jahre ausgehalten, bevor er eine Freundin fand und nach der Öffnung des eisernen Vorhanges nach Prag verschwunden ist.

„Ja!”, antwortete die Mutter und klang ein wenig hektisch, sodaß sie durchatmete und hoffte, daß Margit Mayerhofer nicht schon ungeduldig auf ihre Babysitterin wartete.

„Das ist auch der Grund warum ich anrufe, Resilein!”, sagte sie.

„Was aber das Alleineleben betrifft, ist zu bemerken, daß ich das, bevor ich nach Salzburg zog, nie tat. War da ja nicht nur deine Großmutter, sondern in den Fünfzigerjahren auch ihre Freundin Esther, die aus Budapest flüchten mußte, weil man sie dort eingesperrt oder erschossen hätte und ich habe als junges Mädel auch nichts anderes getan, als mich in deinen Vater zu verlieben, als der vor den russischen Panzern flüchtete und sich hilfesuchend an den Universitätssozialdienst wandte. Da hat er sich in der Mensa an meinen Tisch gesetzt, wo ich ihm sofort verfallen war, was sich leider trotz der zahlreichen Hankas und Katjas, die er außer mir noch liebte, bis jetzt nicht sehr geändert hat und das ist auch der Grund, warum ich anrufe. Es könnte nämlich sein, daß ich in den nächsten Tagen bei dir vorbeischaue. Der gute Jan wird in Prag, wo man keine Dissidenten mehr verfolgt, ein goldenes Verdienstkreuz bekommen und hat mich dazu eingeladen und da ich ohnehin Prag wiedersehen wollte, habe ich gedacht, daß ich das Angebot annehme und auf dem Weg dorthin könnte ich bei dir ein wenig nach dem Rechten sehen, Resilein! Eine gute Mutter sollte sich doch um ihre Kinder kümmern? Das heißt natürlich, damit du mich nicht mißverstehst, ich würde gerne mit dir ins Kino, essen und ein wenig einkaufen gehen, sowie eine Nacht in meinem ehemaligen Zimmer schlafen!”

„Ausgezeichnet!”, dachte Theresa und atmete durch.

„Das trifft sich wunderbar, da braucht sich das verklemmte Reserl keine Sorgen mehr zu machen, daß es den traurigen Asylwerber im Theseustempel über\-nach\-ten läßt!”

„In Ordnung, Mama, ich habe nur gerade festgestellt, es ist nicht besonders aufgeräumt. Du müßtest mir genauer angeben, wann du zu erwarten bist, damit ich vorher Staub wische. Grüße den Papa und richte ihm aus, daß es mich freut, wenn er Ehrenkreuzträger wird. Und falls er es wissen will, mit meiner Universitätslaufbahn geht es voran. War ich doch am Nachmittag bei Professor Kranzler, der mir endlich ein Dissertatonsthema gegeben hat. Ich werde über „Wittgensteins Schweigen” dissertieren, das ist doch ein Thema, das interessieren könnte!”, sagte sie und hörte es läuten.

„Du erwartest Besuch?”, fragte die Mutter prompt.

„Das wird meine Nachbarin sein, die zu ihrem Geburtstag in die Oper will, aber jemanden braucht, der auf Sara und David schaut, weil sich ihr Vater zu einem Kongreß nach München verzogen hat!”

„So sind die Männer! Der gute Jan war ebenso!”, antwortete die Mutter seufzend.

„Er wußte seinen Dissidentenstatus auszunützen, war bald stellvertretender Chefredakteur und hat drei Bücher geschrieben, während ich freie Mitarbeiterin blieb und jedem Auftrag nachrennen mußte!”

„Du warst aber auch Chefredakteurin!”, erinnerte Theresa, hörte es ein zweites Mal läuten und Davids hohe Kinderstimme „Sie ist nicht zu Hause, Mama!”, rufen.

„Von einer Provinzzeitung, die außerdem noch dem Bauernbund gehört, aber man tut, was man kann! Jetzt will ich nicht länger stören! Ich wünsche deiner Nachbarin alles Gute zum Geburtstag! Mach dir keine Mühe, Reserl! Staubwischen kann ich selbst, ich bin eine sehr ordentliche Frau!”

Beim dritten Läuten öffnete Theresa ein wenig atmemlos mit der Schachtel, dem Laptop und den Mappen und lächelte genauso atemlos, den fünfjährigen David und die dreijährige Sara an, die in ihren Nachtgewändern und mit nackten Füßen vor der Tür standen, während Margit Mayerhofer hektisch in einem schwarzen Abendkleid und hohen Stöckelschuhen aus ihrem Vorzimmer stürzte und erleichtert winkte.

„Ist es Ihnen nicht vielleicht doch unangenehm?”, fragte sie zwar. Ihrem Gesichtsausdruck war aber deutlich anzumerken, daß sie eine Verneinung der Frage in Verzweiflung gestürzt hätte. So schüttelte Theresa den Kopf und antwortete munter „Versprochen ist versprochen! Es hat nur meine Mama angerufen, um mir mitzuteilen, daß sie meinen Vater in Prag besucht und vorher bei mir vorbeischauen will und die ist eine hartnäckige Person und nicht so leicht abzuhängen. Deswegen habe ich ein bißchen länger zum Aufmachen gebraucht. Ich hoffe, Sie kommen nicht zu spät.

„Nein, nein!”, beruhigte Margit Mayerhofer und blickte auf ihre Uhr.

„Ich bin schon fertig und die Kinder sind zum Schlafen hergerichtet. Das Abendessen ist gegessen, die Zähne sind geputzt. Also meine Lieben, dann wird sich eure Mama in die Oper verziehen. Wenn sie dort schon nicht die Tosca singen kann, wird sie zuhören, um es morgen, wenn ihr im Kindergarten seid, selber zu probieren!”, sagte sie und beugte sich zu den Kindern, um ihnen jeweils einen schnellen Kuß auf die Wange zu drücken.

„Bis bald!”, rief sie die Stiegen hinunterlaufend.

„Ich werde mir zur Feier des Tages ein Taxi leisten, wenn ich eines am Standplatz finde. Das passt besser zu einer Geburtstagsfeier. Um elf, halb zwölf bin ich sicher wieder da!”, versprach sie und klapperte die Stufen hinab. Die kleine Sara winkte ihr nach, während sich der größere David für die Schätze in Theresas Händen interessierte.

„Brauchst du das alles für deine Dissertation?”, wollte er wissen und sprach das lateinische Wort vollkommen korrekt aus, während sich Sara vom Schatten ihrer verschwindenden Mutter löste und „Was ist eine Dissertation?” fragte. „Eine Doktorarbeit!”, antwortete Theresa und schloß die Wohnungstür.

„Ich brauche nur die Mappen und mein Com\-pu\-ter\-käst\-chen.”

„Und die Schachtel?”, fragte David neugierig.

„Die ist staubig und gehört abgewischt!”, setzte er altklug hinzu.

„Richtig!”, antwortete Theresa.

„Die war im Gästezimmer und gehört in die Abstellkammer. Dann hat das Telefon geläutet, sodaß ich nicht mehr zum Verstauen kam!”, sagte sie und stellte ihren Laptop und die Mappen auf der Vorzimmerkommode ab. Die Schachtel behielt sie in der Hand, wollte jetzt auch Sara wissen, was darin enthalten sei und der vorlaute blondlockige David war überhaupt dabei sie ihr zu entreißen.

„Was ist darin versteckt?”, fragte er und Theresa wich, um ihn abzuwehren, einen Schritt in Richtung Küche aus.

„Das werden wir herausfinden, nachdem wir die May\-er\-ho\-fer Kinder ins Bett steckten und die Mama in die Oper fährt, um die Arie der Tosca anzuhören, die sie euch morgen vorsingen wird. Heute gibt es von mir eine Gute-Nacht-Geschichte, weil aber keine Zeit war, mir eine auszudenken, werden wir stattdessen nachschauen, was in der Schachtel steckt? Aber jetzt sind wir in der Küche und da stehen eure Gläser Honigmilch, die ihr vor dem Einschlafen trinkt, damit ihr gut träumt. Alles andere ist schon fertig, habe ich gehört? Gewaschen und gekämmt seid ihr und die Zähne habt ihr euch trotz Honigmilch auch geputzt? Aber die Mama hat sicher nur ein kleines Löffelchen genommen, sodaß das nichts ausmacht!”, behauptete sie und drückte den Kindern je ein Glas der noch warmen Flüssigkeit in die Hand.

„Damit ab ins Kinderzimmer, wer als erster im Bett ist, hat gewonnen. Ich werde erst die Schachtel abwischen, damit ich euch keine Spinnen einquartiere!”, sagte sie und beobachtete, wie sich Saras Gesicht verzog.

„Igitt, Spinnen, pfui!”, rief sie und lief dem Bruder ins Kinderzimmer voran.

„Ich hab gewonnen!”, schrie sie von dort, was der nicht auf sich sitzen ließ.

„Stimmt nicht!”, brüllte und ebenfalls ins Kinderzimmer lief. Theresa nickte befriedigt und griff nach einem Staubtuch.

Gewonnen und ganz leicht gewesen, die beiden ins Bett zu bringen. Da sollte einer sagen, daß das eine Philosophiestudentin nicht zusammenbringt und man dazu Psychologie studieren muß. Muß man nicht und auch nicht Publizistik, wie die Mutter, dachte sie und rieb mit Margit Mayerhofers Staubtuch die Schachtel ab.

„Wo bleibst du, Resi?”, hörte sie die Kinder rufen und war nicht böse, daß sie ihren Namen verballhornten. Sie meinten das nicht so, wie es ihre Mutter vor zehn bis fünfzehn Jahren tat. Aber die hatte es sicher auch nur gut gemeint. „Ich komme schon. Die Schachtel ist jetzt sauber, sodaß wir uns auf ihren Inhalt stürzen können und dann die Augen zu und hübsch eingeschlafen. Ihr wißt, ich muß an meiner Doktorarbeit schreiben, um eine gescheite Frau zu werden und den Herrn Doktoren Paroli zu bieten!”, sagte sie, setzte sich an ihre Betten und machte die Schachtel auf. Fotos waren darin zu finden. Uralte schwarzweiß Fotografien, was zu erwarten war, weil im Abstellkammerl ähnliche Schachteln lagerten, die Kinder aber enttäuschte.

„Das sind nur alte Fotos!”, sagte David gelangweilt, während Theresa etwas interessierter war.

„Sie sind von meiner Mama und der Großmama!”, sagte sie und nahm eines heraus, das zwei lachende Frauen mit Dirndlkleidern und einem kleinen Mädchen zeigten. Die Mama mit der Oma und der ungarischen Flücht\-lings\-frau, die, wenn sie sich richtig erinnerte, Esther hieß. Was aus ihr geworden war? Irgendwann war sie ausgezogen und hatte die Mutter mit der Großmutter zurückgelassen, die eine schöne Frau gewesen war, mit ihren langen dunklen Haaren, die sie zum Dirndl passend, zu einem Knoten aufgesteckt trug. Den Hals zierte eine hübsche Modeschmuckkette, die die Großmutter, die, wie Theresa wußte, Kunstgewerbe studiert und als Handarbeitslehrerin gearbeitet hatte, sicher selbst anfertigte. Interessant das alte Foto, das an einem See aufgenommen worden war. Vielleicht war die Großmutter mit der Mutter und ihrer Freundin auf Sommerfrische gewesen, wie man das früher nannte.

„Das ist ja ohne Farbe!”, maunzte David und sie steckte es in die Schachtel zurück.

„Ja, denn es ist schon lange her, daß es aufgenommen wurde. Das ist meine Großmutter mit meiner Mutter, als sie ein kleines Mädchen war und da hat es noch keine Handies und keine Farbfilme gegeben!”, erklärte Theresa.

„Wenn ihr eingeschlafen seid, schaue ich mir die Fotos noch ein bißchen an, bevor ich mit meiner Dissertation über Ludwig Wittgenstein beginne. Das ist auch ein alter Herr, der schon gestorben ist!”, sagte sie und merkte, daß die Kinder, die Augen schon geschlossen hatten.

„Sehr gut!”, dachte Theresa.

„Dann kann ich Tee kochen und den Laptop einschalten. Die Schachtel trage ich morgen ins Abstellkammerl, bevor ich das Gästezimmer für die Mama putze und wenn der Pflichtbesuch vorüber ist, habe ich keine Ausrede mehr, es vielleicht doch den Studenten anzubieten. Ich muß aber nicht, auch wenn unsere Wohnung offenbar schon vielen Flüchtlingen als Asyl diente!”


Alfred Nagl