Wo wir waren oder Hundert Seiten Depression

Was hat die Frauenbewegung gebracht, die in den Neunzehnhundertsiebzigerjahren so hoffnungsvoll begonnen oder fortgesetzt wurde, könnte man sich fragen?

Lore Spielmann, die in Kürze ihren siebzigsten Geburtstag feiert und sich nach ihrer Pensionierung in ihr Elternhaus nach Weitra zurückgezogen hat, dort den Garten pflegt, Gemüse zieht und ihre Memoiren schreiben will, fragt sich das.

Will doch ihre Enkeltochter Amelia, die gerade ihre Corona-Matura hinter sich gebracht hat, in ihre Fußstapfen steigen und in Wien bei ihrem Vater Richard Gender studieren, die nach dem Selbstmord ihrer Mutter hauptsächlich von der Großmutter aufgezogen wurde, während Richard, ein erfolgreicher Journalist, seinen Job verloren hat, weil er bei einer der Corona-Demonstrationen gesehen wurde und nun ein Online-Portal aufbaut, unter der Emanzipation seiner Mutter sehr gelitten hat und sich als Jugendlicher oft von ihr vernachlässigt fühlte.

2.

Richard Spielberg seufzte als er aus der U-Bahn stieg. Ein Blick auf die Uhr sagte ihm, daß er verdammt spät dran war, wenn er das Töchterlein rechtzeitig abholen wollte. Sie hatte, da sie von Weitra zu ihm übersiedelte, wohl einiges zu schleppen. Da wollte er helfen und ein guter Vater sein, obwohl er sie die letzten Jahre verdammt wenig gesehen hatte und daher höchstwahrscheinlich ein schlechter war und er Angst hatte, daß Mela ihm das einmal vorwerfen würde.

„Du bist ein verdammt schlechter Vater, Pa, denn du hast dich nicht um mich gekümmert! Dein Beruf und deine Zeitung waren immer wichtiger, als ich! Wenn sich die Oma nicht meiner angenommen hätte und zu uns gezogen wäre, als die Ma in ihrer postnatalen Depression oder, wie das heißt, den Medikamentenschrank geplündert und sich die Handgelenke aufgeschnitten hat, wäre ich wohl verhungert!”

Er fürchtete, daß er ihr nicht glaubhaft „Unsinn, Mela, verhungert wärst du nicht, obwohl ich dir die Brust nicht geben konnte!”, antworten könnte.

„Die Oma konnte das ebenfalls nicht und was sollte ich tun? Ich mußte in die Redaktion, um das Geld, das wir zum Leben brauchten, zu verdienen!”

Das würde nicht sehr glaubhaft klingen und er einen roten Kopf bekommen, wenn er die Verteidigungsfloskeln hervorstammeln würde, denn er würde daran denken, daß ihm die Mutter vor fünfunddreißig Jahren dasselbe geantwortet hatte, als er ihr vorwarf, eine schlechte Mutter zu sein, die sich nicht um ihn kümmerte und ih zuviel alleine ließ.

„Tut mir leid, Richi, aber das stimmt nicht ganz!”, hatte sie wohl selbstbewußter gekontert und das hatte den Pubertierenden geärgert, wenn ihn die anderen verächtlich „Schlüsselbubi!”, hänselten und die Klassenvorständin fragte, ob er nichts vermisse, wenn er den Schlüssel, den er tatsächlich um den Hals trug, hervorgezogen hatte, um die Wohnung aufzusperren und aus dem Eiskasten, das oft nicht vorgekochte Essen herauszunehmen. Denn er hatte von Kaltem und Tiefkühlsachen gelebt und sich über das Achselzucken der Mutter, wenn er gefragt hatte, warum sie nicht eine normale Familie wären, geärgert.

„Was soll ich denn machen, Richi?”, hatte sie wieder geantwortet.

„Du weißt doch, dein Vater hat mich, als ich von ihm schwanger war, verlassen, weil ihm sein Studium wichtiger war und mit Zwanzig war ich nicht so weit an Verhütungsmittel zu denken, als ich ihn bei einer Studentenparty kennenlernte und war auch so naiv, mich in ihn zu verlieben, so daß ich gar nicht nachdachte, daß ich mich verweigern hätte können!”

Später hatte sie sich mehr an Frauen gehalten und ihre Freundinnen Angie und Elfi, die beide engagierte Feministinnen waren, waren oft genug mit der Mutter im Wohnzimmer gehockt, um an Arbeitsprotokollen zu tüfteln oder Transparente für die nächste Demo zu malen und hatten ihn verächtlich angesehen, wenn er den Fernseher aufdrehen wollte. Platz war in dieser Frauen-WG für seine Freunde nicht gewesen. Denn die Damen waren Männerhasser, die in ihren Sitzungen keine solchen, egal, wie alt sie waren, duldeten und so hatte die Mutter, was sie ihm wohl auch vorgeworfen hatte, die ersten Jahre zu Hause bleiben müssen, weil die Feministinnen keine männlichen Babies in ihren Räumen duldeten. Das war jetzt vorbei und war es auch gewesen, als Paula für ihn völlig überraschend, sich sechs Wochen nach Melas Geburt vergiftete, weil sie das schreiende Baby überfordert hatte. Gut, sie war schon früher depressiv gewesen. Das hatte er gewußt. Sie hatte sich aber auf das Kind gefreut und er hatte sie auch nicht verlassen, sondern geheiratet und sich auf die gemeinsame Zukunft gefreut. Dann war Paula mit aufgeschnittenen Händen, vollgepumpt in der Badewanne gelegen, als er erschöpft von der Redaktion nach Hause gekommen war und vom Schreien des Babies, das schon am Gang zu hören war, beunruhigt, die Wohnung aufsperrte. Da hatte er die Mutter angerufen und sie war sofort gekommen, hatte die WG in der sie mit ihren Freundinnen lebte, verlassen und war zu ihm gezogen, um ihm beim Aufziehen der Kleinen zu helfen.

„Damit du keine Schwierigkeiten mit dem Jugendamt bekommst! Das einem alleinerziehenden Vater vielleicht nicht zutraut mit einem Säugling zurecht zu kommen!”

So war aus der kleinen Mela ein Oma-Kind geworden und hatte immer warmes Essen vorgefunden, wenn sie aus der Schule kam, auch wenn Elfi und Angela oft genug das Wohnzimmer mit ihm teilten, wenn die Oma im Institut, wo sie eine Halbtagsstelle hatte, länger bleiben mußte und die Sommer hatte sie mit der Kleinen in dem Gartenhaus bei Weitra, das sie von ihren Eltern geerbt hatte, verbracht. Da hatte er sie am Wochenende besucht. Manchmal war er auch mit einer kurzzeitigen Freundin in die Toskana oder nach Griechenland geflogen. Hatte ein paarmal Mela mitgenommen, die, als die Mutter mit Sechzig in Pension ging und aufs Land zog, mitkommen wollte. Er hatte nichts dagegen gehabt. War die Arbeit in der Redaktion doch anstrengend und eine Zeitlang hatte auch Sonja bei ihm gewohnt, die ihm offen zu verstehen gab, daß sie keine Heranwachsende bei sich haben wollte. So war er der Mutter dankbar, aber auch erfreut, als Amelia ihm zu Weihnachten verraten hatte, daß sie nach der Matura nach Wien ziehen wollte, um Gender zu studieren und, ob er etwas dagegen hätte, wenn sie bei ihm wohne?

„Deine Sonja ist ja nicht mehr da!”, hatte sie etwas spitz gesagt, was er geflissentlich überhört und „Natürlich, Töchterlein!”, geantwortet und sie an sich gedrückt hatte.

„Das darfst du eigentlich nicht, Papa oder hast du dich getestet?”, hatte Amelia brav, als Schülerin des Weitraer-Gymnasiums, die damals noch im Homeschooling war, gefragt. Ob sie das ganz ernst gemeint hatte, war er sich nicht sicher! Er hatte schon damals Zweifel an der Corona-Politik gehabt, obwohl er in der Redaktion dafür schreiben hatte müssen. Er mußte sich beeilen, um den Bahnsteig, wo der Zug bestimmt schon eingefahren war, zu erreichen und das Töchterlein nicht zu verfehlen, damit sie ihn nicht für einen schlechten Vater hielt. Die verdammte Maske, die man in allen Innenräumen tragen mußte, drückte auch. Er hatte eine Kollegin, die sich konsequent weigerte, sie zu tragen. Aber die lebte mit einer Nichte, die für sie einkaufte und konnte es sich auch leisten alles im Homeoffice zu erledigen. Er war nicht so privilegiert, denn er mußte in den Supermarkt, sich sein Bier, Brot und seine Dosenravioli zu besorgen und weil er die nicht so oft essen wollte, mußte er auch manchmal in die Betriebskantine und jetzt auf den Bahnsteig, um Mela beim Tragen zu helfen.

„Hallo, Paps!”, hörte er schon ihre helle Stimme, die mit einem Trolley, einer Reisetasche und einem vollen Rucksack auf ihn zustolperte. Fast hätte er sie mit ihrer schwarzen FFP2-Maske, die sich gar nicht so sehr von ihrem schwarzen Pagenkopf abhob, nicht erkannt. War das Töchterlein in der Gruftiephase? Es mochte so sein, denn sie trug ein schwarzes Shirt und ebensolche Jeans und schaute ihn erstaunt an. Rügte ihn aber nicht, weil er zu spät gekommen war, sondern fragte „Du bist nicht in der Redaktion, Papa oder müßt ihr immer noch Homeoffice schieben? Fein, daß du gekommen bist! Ich habe mir schon Sorgen gemacht, wie ich das Zeug in deine Wohnung bringe, da ich mir, wie ich fürchte, kein Taxi leisten kann, weil ich mit der Waisenrente, die ich beziehe, sehr sparen muß!”

„Mach dir keine Sorgen, Kindchen! Natürlich nehmen wir ein Taxi!”, versprach er und drückte einen Kuß auf ihre Stirn, den sie sich widerspruchslos gefallen ließ. Nur die ältere Dame, die gerade ihren Koffer an ihm vorbeischob, funkelte ihn böse an und stieß „Können Sie nicht Abstand halten? Wir haben immer noch Corona! Da sollten Sie auch bei Ihrer kleinen Freundin aufpassen!”, heraus und Amelia warf fast übermütig ein „Es ist mein Papa und den Babyelefanten habe ich in Weitra bei der Oma vergessen! Sie können ihn aber, wenn Sie Sorge haben, gerne holen! Die Oma braucht ihn ebenfalls nicht! -- Danke, Papa, ich freu mich sehr in Wien zu sein! Aber mit den Parties wird es wohl schwierig werden, wenn ich die Tante recht verstanden habe!”, fügte sie hinzu und erkundigte sich zum zweiten Mal, ob er nicht in der Redaktion sein müsse?

„Da bin ich nicht mehr, Schätzchen!”, beeilte er sich zu erklären und etwas kleinlaut hinzuzufügen „Denn stell dir vor, sie haben mich vor zwei Tagen entlassen, weil sie herausbekommen haben, daß ich auf einigen dieser Demos war und das geht doch nicht, hat mein Chef gekontert, daß sein Stellvertreter ein Corona-Leugner sei und sich noch erkundigt, ob ich ein Nazi bin?”

„Das bist du doch nicht, Papa, denn du bist ein alter Kommunist oder hat sich das geändert?”, fragte Amelia forsch und fügte „Uje, Papa! Das tut mir leid!” hinzu. Dann sah ihm so erschrocken an, als würde sie fürchten, daß er auch in den Medikamentenschrank und zum Rasiermesser greifen würde, so daß er entschlossen „Keine Angst, Kindchen, das hätte ohnehin nicht mehr hingehaut! Ein Kommunist bin ich noch immer! Aber die Maßnahmen und das, was ich im Auftrag des Chefs schreiben mußte, hätte ich nicht mehr lang ertragen! So ist es ehrlicher und ich mache eine Online-Redaktion auf! Ich bin schon dabei, die Vorarbeiten dafür zu leisten und plane einen Kanal über die „Fünfhundert Tage des Corona-Wahnsinns” und der vielleicht doch zu überzogenen Maßnahmen, die die Wirtschaft zusammenkrachen ließ, herauszubringen. Wenn das Erste zu radikal sein sollte, nenne ich ihn „Fünfhundert Tage Depression” Das müßte doch durchgehen!”, sagte er und wunderte sich, daß Mela in die Hände klatschte.

„Wow, Papa, das ist ein Clou! Die Oma schreibt mit ihren Busenfreundinnen ihre Memoiren unter ähnlichen Titel und du planst einen solchen Kanal! Ich habe eine wirklich rebellische Familie und weißt du, ich freue mich auf Wien und gebe dir deshalb noch einen Schmatz auf die Wange! Auch wenn sich der Taxifahrer weigern sollte, zwei Corona-Leugner mitzunehmen!”