[Die Rezension wurde von Franz Blaha hier veröffentlicht.]

Dreimal «S» — Selma, Svetlana («Sveti») und Sevim. Dreimal Frau. Dreimal eben 35 geworden. Dreimal Prekärsituation, die mit «Frau» zu tun hat, und ebenso oft ein jeweils spezieller Problemhintergrund. Selma Obermayer ist «die Frau auf der Bank». Sie hat unverschuldet ihren Job verloren und ist beim zweiten «S», bei Svetlana Mihic, ambulant in psychiatrischer Behandlung. Svetlana Mihic ihrerseits lernt bald eine alte Schulkollegin kennen — das dritte «S», Sevim Erdogan. Alle drei «S» wohnen in Wien, und es ergibt sich sehr rasch ein Bekanntschaftsgefüge zwischen ihnen.

Selma Obermayer ist als «paranoid schizophren» diagnostiziert. Obwohl sie ihre Medikamente nicht nimmt und ihre soziale und finanzielle Situation alles andere als rosig ist, kommt dieses psychische Handicap nie zum Ausdruck. Nie fühlt sie sich bedrängt oder gar verfolgt. Ihre Prekärsituation kompensiert sie mit der Wahnvorstellung, eine «Stadtsheriffa» zu sein, deren Quasibüro eine Holzbank im Rathauspark ist. Obschon sie wähnt, dass die RathausbeamtInnen ihre regelmäßigen Meldungen über Missstände in der Stadt nicht ernst nehmen, führt das bei ihr nie zu Groll, zu aggressiven oder zu Angstfantasien. Im Gegenteil, ihre Freude ist es, die Probleme anderer Menschen zu erkennen und helfend einzugreifen. Die Wichtigkeit, die sie ihrer Person mit dem Aufrechterhalten ihrer Pseudoidentität verleiht, schützt sie ganz offenbar vor zu großem Leidensdruck und vor untolerierbarem Anecken mit ihren Zeit- und StadtgenossInnen.

Dass es ein erklärtes Therapieziel ist, ihr diesen Leid verhindernden Kompromiss mit der Realität zu nehmen, könnte Ausgangspunkt einer kritischen Auseinandersetzung mit den iatrogenen Vorstellungen von Gesundheit und Krankheit sein. Darauf geht das Buch aber nicht ein, es würde vom Anliegen, aus dem heraus es offenbar entstanden ist, zu sehr ablenken. Dieses Anliegen aber ist unleugbar, möglichst klar und unumwunden aufzuzeigen, dass in jeder schwierigen Situation das Schicksal, eine Frau zu sein, erschwerend wirkt, egal aus welchem ethnischen Hintergrund sie kommt und egal, wie bemüht und tüchtig sie ist. Ohne Partner oder unmittelbare Absicht und/oder Aussicht, dürfte Frau in der Lebensmitte noch am besten zurechtkommen. Jedenfalls ist die als paranoid diagnostizierte «Stadtsheriffa» das einzige «S», das fröhlich und rundum positiv gestaltend im Leben steht.

Ganz anderes geht es ihrer Therapeutin, Svetlana Mihic. Die 35-jährige Fachärztin in Ausbildung ist sehr viel weniger selbstsicher als ihre Patientin, ja sogar als eine durchschnittliche Frühpubertierende. Aus dem Kulturraum der Roma in die österreichische Großstadt des Hier und Jetzt verpflanzt, hat sie einen Vielfrontenkrieg gegen die unterschiedlichsten Erwartungshaltungen zu führen, der ihr vorläufig keine Chance auf ein reifes autonom gestaltetes Erwachsenenleben lässt. 155 Buchseiten hindurch fällt sie von einer Verlegenheit in die andere, jedesmal errötend — als einzige Ausdrucksform emotionaler Bedrängnis. Eine ganze Reihe von Zwickmühlen bereitet ihr das Hineingeworfensein in widersprüchliche Zwischenbereiche. Die Kindheitsprägung als Romni will sie zwingen, Jungfräulichkeit als den Brautschatz zu bewahren, mit dem man in die Beziehung mit dem Lebensmenschen geht. Andererseits schämt sie sich, im Wien des 21. Jahrhunderts mit 35 noch Jungfrau zu sein. Als Kompromiss benutzt sie einen Arbeitskollegen während eines Nachtdienstes als Entjungferungsinstrument. Einem Mann, den man emotional begehrt, könne man sich ja als alte Jungfer nicht zumuten. Warum sie keinen Gedanken daran verschwendet, der Deflorationsgehilfe könnte sich in der Kollegenschaft oder privat mit seinem Erfolg brüsten, bleibt unerörtert. Dabei trägt sie an ihrem Deflorationsgeheimnis schwer.

Für ihren Romni-Vater, so erfährt man, gehört es zur Familienehre, das Leintuch mit den Spuren der Brautnacht im Wirtshaus sichtbar aufzuspannen. Alles, was sie tut, bedeutet für sie Konflikt. Mit 35 noch in Ausbildung zu sein, hat Erklärungsbedarf, es als Romni und als einziges Familienmitglied zu akademischer Ausbildung und relativem Wohlstand gebracht zu haben, schafft Schuldgefühle gegenüber und Neid unter den Angehörigen. Im Vergleich zu Vater, Mutter, Schwestern und Onkel ist sie gut situiert. Gegenüber dem Oberarzt, in den sie sich verliebt, hat sie Hemmungen ihrer sozialen Stellung und Herkunft wegen. Sogar ihrer Patientin gegenüber ist sie verlegen, lässt sich sofort aus dem Konzept bringen, weiß nicht, wie sie deren unbefangenen Fragen begegnen soll und wird nicht nur beim ersten sondern bei jedem Mal rot. Sie schämt sich, nicht tanzen gelernt zu haben, ist unsicher, was sie anziehen soll und wagt es nicht, ihrem Auserwählten ihre Liebe vor dem ersten Geschlechtsverkehr mit ihm in der unromantischen Klinikumgebung zu gestehen.

Sevim Erdogan ist Türkin. Mit 15 hätte sie von ihren Eltern an ihren leiblichen Cousin verheiratet werden sollen. Da ist sie aber noch stark und trotzt der türkisch-elterlichen Autorität. Zwei Jahre später heiratet sie ihre große Liebe Bülent Erdogan, der sich gleich nach der Geburt des ersten Kindes als egoistisches Arschloch entpuppt, das er bis zum logischen Ende ihres Zusammenseins bleibt. Er unterdrückt Frau und Töchter, säuft, ist gewalttätig und geht fremd. Sevim nimmt alles unterwürfig hin, bis er sich als untreu verrät. Da endlich wagt sie es, aufzubegehren. Der Einfluss der Nachbarin Leyla und die Zuwendung und Ermunterung der fröhlichen «Stadtsheriffa» helfen ihr dabei. Wie sehr sie ihre Unterwürfigkeit immer noch aus dem Frauenbild bezieht, das man ihr anerzogen hat, mag eine Nebenszene verdeutlichen. Bülent hat eine volle Salatschüssel zerschmettert. Sevim erzählt später, dass die Töchter die Glasscherben vom verdreckten Boden mit bloßen Händen aufgelesen haben. Sie erzählt es ohne die geringsten Bedenken wegen ihres sorglosen Umgangs mit den Kindern, während sie Ängste aussteht, weil ein Lehrer ihrer Töchter sie zufällig auf der Straße getroffen hat. Das Tabu: «Man spricht nicht mit einem fremden Mann» ist unvergleichbar stärker als die Sorge um die körperliche Sicherheit der Kinder – vielleicht, weil es Mädchen sind? Auch hier geht der Text nicht näher auf die persönliche Problematik ein.

Die Männer im Buch sind unwandelbare, selbstsichere Problemlieferanten. Nicht nur das Arschloch Bülent. Auch der bürgerliche Typ von einem Oberarzt, der seine unsichere Kollegin Sveti nach wenigen Begegnungen mit einem Heiratsantrag überfällt. Mit dem Gerede unter der Kollegenschaft geht er noch halbwegs geschickt um. Aber, ohne ihr Zeit für näheres Kennenlernen zu lassen, schleppt er sie in seine Wohnung und bietet ihr an, ihr Bild dort neben das seiner verstorbenen großen Liebe an die Wand zu hängen. Er behandelt die Frau wie ein Möbelstück, ihr Bild passt neben das in seiner noch im Gange befindlichen Trauerarbeit und in die gediegene Einrichtung. Auch dieses Verhalten wird nicht kommentiert. «Mann» ist eben so (!?), was soll «Frau» machen? Sie hat damit glücklich zu sein.

Das Textkonzept ist reißbrettartig konstruiert. Eine Dreifachsymmetrie, in der die Handlungsfäden rasch, logisch und geradlinig gezogen werden. Da gibt es keine Erzählmomente, die von der Gesamtaussage ablenken, keine Twists im Verlauf. Alles passiert den voraussetzenden Gegebenheiten entsprechend — die Miseren sind weniger den charakterlichen Eigenheiten zuzuschreiben als der immer noch antifeministischen Struktur, in der man sich hierzulande in einem aufgeklärten (?) Zeitalter bewegt. Alle drei S stehen ständig in einem Erklärungsbedarf ihrer Situation — nicht weil sie sie selbst sind, sondern weil jede Frau in ihrer Situation mit den gleichen Problemen konfrontiert wäre. Ein bisschen Freiheit gibt es (für «Frau») anscheinend nur, wenn man extrem ins Abseits gerät und sich fröhlich mit seinem Stigma arrangiert, wie es dem Haupt-«S» Selma Obermayer gelingt.

Wer sich ein konzentriertes Bild von den gesellschaftsimmanenten Hindernissen verdeutlichen lassen möchte, die der Frau von heute — unabhängig von ihrer Tüchtigkeit, ihrer Herkunft, Weltanschauung und Familienstand — entgegenstellen, wenn sie in der Lebensmitte endlich nach Veränderung strebt, ist mit dem Bändchen gut bedient. Eva Jancak wurde vom ORF einmal in einer ihr gewidmeten Sendung als «die Vielschreiberin» tituliert. Neben anspruchsvollem Beruf, Familie und sozialem Engagement fließen ihr auch noch so an die drei Bücher pro anno aus Kugelschreiber und Tastatur, die sie dann selber drucken lässt und bei ihren Lesungen auch selber vertreibt. In ansprechender Aufmachung, mit Farbcover. Um EUR 5.- für mehr als 150 Seiten erwirbt man einen preiswerten Blick auf jeweils ausgewählte Härten des Hier und Jetzt.

Was den Bändchen leider fehlt, ist ein Lektorat oder zumindest jemand, der das Korrekturlesen übernimmt. In einer Zeit, in der nicht einmal die größten Buchverlage sich ausreichend Lektoren leisten können, darf man diese Forderung an einen Einfraubetrieb, der vom Textentwurf bis zum Verkauf alles alleine bewerkstelligt, nicht stellen. Bestimmt ist die «Vielschreiberin» während ihrer Tipparbeit im Geiste schon beim nächsten Konzept. Die dadurch bedingte Dichte von Flüchtigkeitsfehlern ist stellenweise aber so hoch, dass man ihr jemanden wünscht, der bereit ist, unentgeltlich Korrektur zu lesen oder sogar auf die eine oder andere stilistische Schwäche hinzuweisen. Die Anhäufung der Floskeln «ist er doch, hat er doch, war es doch, muss man doch,...» verleiht dem Text etwas ungewollt Betuliches, eine Geziertheit, die so gar nicht zum Thema passt und trotz der Monotonie den Lesefluss nicht erleichtert sondern erschwert. In diesem Sinne: hoffentlich findet sich jemand.

Franz Blaha