[Die Rezension wurde in GEGENWARTSLITERATUR 2191 veröffentlicht]

Rezension: Eva Jancak, Kerstins Achterln

Auf chaotischen Wahrnehmungsfeldern ist der Roman oft die letzte verlässliche Einrichtung, die eine eigene Wirklichkeit schafft.

Eva Jancak trägt in ihren Romanen jeweils diese Roman-Wirklichkeit durch den psychotisch aufgewühlten Zustand der Figuren. „Ich beschreibe in diesem Roman Ähnlichkeiten und Zufälle. Die Personen und die Handlung sind erfunden.” (Vorspann)

Die Protagonistin Kerstin ist eine erfolgreiche Fotografin, die sich vor allem in Insider-Welten von Galeristen und Jungkünstlern bewegt. Über Nacht hat sich Franz, ihr Geliebter, verabschiedet, was zuerst wie eine kleine Auszeit aussieht, stellt sich bald als vollkommene Abwesenheit heraus.

Kerstin hat eine verzögerte Wahrnehmung, die sie durch ständiges Nachwerfen von Achterln an die Realität heranführen muss. Oft ist nicht klar, was ein Alptraum ist, was ein Rausch und was eine Gegebenheit. Ok, sagt sich Kerstin, Franz macht eine Entwöhnungskur, das wird dauern.

Zwischen „wunderbar und beschissen” (15) macht sich Kerstin auf den Weg, eine neue Ordnung in ihr angetrunkenes Leben zu bringen. Besonders hilfreich ist eine Entwöhnungsbekanntschaft, wobei ein Kunde immer vor das Sanatorium flüchtet, um den Trink-Spiegel konstant zu halten. Entwöhnung durch Trinken heißt das Prinzip.

Kerstin wird von ihrer Mutter, von Freundinnen und Künstlern durchaus offen auf ihr Alkoholproblem angesprochen, aber andererseits ist das Trinken auch zu ihrem Markenzeichen geworden, so dass sie es nicht über Nacht einstellen kann. „Der Nachmittag war nicht schön geworden” lautet eine Zusammenfassung eines Trinkertages, es ist nichts passiert, weder im Positiven noch im Negativen.

Wo bleibt die Regelmäßigkeit, fragt sich Kerstin zwischendurch ängstlich, wenn sich die Gefühlslage verändert. Und dann stellt jemand aus dem Freundeskreis lapidar fest: „Wir Menschen sind Gewohnheitstiere.” (193)

Dass sich das Leben Kerstins in eine schaurige Richtung dreht, merkt sie beim Einschlafen, wenn die angezählten Schäfchen plötzlich mit der Maske von grausigen Menschen zurückstarren. Jeder Ungustl vom Vortag kommt anderntags als Schäfchen in den Alptraum des Einschlafens zurück.

Franz entwöhnt sich einen ganzen Roman lang und auch Kerstin beginnt allmählich, sich von Franz zu entwöhnen, die Achteln freilich zieht sie durch. Nette Pfarr-Runden, Kuchenbacken mit geschenkter Marmelade, Preisverleihungen für Debutromane, Entwöhnungs-Achterl mit dem Entwöhnungspatienten. Das Leben lässt sich mit dem Server der Entwöhnung ganz gut meistern, zumal ja auch die Gesellschaft an allen Ecken und Enden ein Achterl zur Verfügung stellt. Trinken und Nicht-Trinken sind vielleicht nur zwei verschiedene Begriffe für einen leicht entrückten Zustand.

Eva Jancak geht milde mit ihrer Protagonistin um, hält ihr alle moralisierenden Satze vom Leib fern und lässt sie in Ruhe ihre Achterl-Bahnen ziehen. Wahrscheinlich geht dieser Roman gerade wegen seiner Friedfertigkeit so unter die Haut.

Helmuth Schönauer 2013-11-19