Die Toten lassen grüßen

Julias Zwillingsbruder, um den sie noch immer trauert, ist vor zwei Jahren an einem Schlaganfall verstorben. Jetzt trifft sie auf der Geburtstagsparty ihrer Freundin Mila, den Schriftsteller Fabian Kratky, der einen utopischen Roman über die Zustände unserer Zeit schreibt und sie gerät, noch dazu, da sich ihre demente Großmutter partout nicht ausreden läßt, daß er nicht Julian ist, komplett durcheinander.

1.

Jury Steiner war, wie meist nicht ausgeschlafen, als er kurz nach neun die Wartezone des Hauptbahnhofes erreichte und sich suchend umblickte. Ob die Obdachlosen, die er regelmäßig in der Wartezone traf, da die Notschlafstellen um neun ihre Pforten schlossen und sie erst am Abend wieder öffneten, schon anwesend waren, um den Tag dort zu verbringen, fragte er sich und schüttelte verärgert den Kopf. Er war mit sich unzufrieden, denn er hatte in seinem zweiundvierzigjährigen Leben nicht mehr geschafft, als an der Flasche zu hängen, die Nächte in einer Notschlafstelle zu verbringen und die Tage am Hauptbahnhof, wenn ihn dort die Securities nicht vertrieben. Das stimmte nicht so ganz, denn eigentlich hatte sein Leben erfolgreich begonnen. War er doch ein guter Schüler gewesen, der das Gymnasium mit Auszeichnung schaffte. Danach hatte er Soziologie und nicht Medizin, Jus oder Wirtschaft, wie die Aufsteiger studiert, denn er war ein gesellschaftspolitisch interessierter Mensch, der die Welt verändern wollte, was ihm aber nicht gelungen war. Denn Isolde, die er jung geheiratet hatte, war sehr anspruchsvoll gewesen und hatte für sich und die Kinder hohe Forderungen gestellt, die er mit seinen Werkverträgen und befristeten Anstellungsverhältnissen nicht erfüllen konnte. So hatte er, bis Isolde ihn hinausgeschmissen hatte, seine Abende immer öfter in Beiseln verbracht und ihre und des Jugendamtes Forderungen erst recht nicht erfüllen können. Corona hatte ihm den Rest gegeben. Da hatte er seine Wohnung verloren. Von Jobs war schon lange keine Rede mehr und so verbrachte er seine Tage regelmäßig in den Wartezonen am Hauptbahnhof, unterhielt sich mit den anderen Sandlern über die Beschissenheit des Lebens und versuchte sich von den Securities, die sie vertreiben wollten, nicht erwischen zu lassen.

„Hallo, Jury! Auch wieder da?”, hörte er die quietschende Stimme des übergewichtigen Roberts, der sich schon um halb zehn an seine Bierflasche klammerte und ihm damit zuwinkte. Da ging es ihm etwas besser, denn es gelang ihm meistens sich noch ein paar Stunden zurückzuhalten und in den Notschlafstellen galt ohnehin striktes Alkoholverbot.

„Auch wieder da? Erwin kommt ebenfalls und der Mehmet! Mit denen können wir, damit sich die Securities, die uns immer nach unseren Tickets fragen, nicht aufregen, nach Bratislava fahren! Kommst du mit? Machen wir eine kleine Spritztour? Dort ist das Bier billiger und die Ordnungshüter lassen uns auch in Ruhe!”, fragte der dicke Robert. Jury schüttelte unentschlossen den Kopf.

„Keine Ahnung!”, antwortete er zögernd und war froh, als er den erwähnten Erwin auftauchen sah, der ebenfalls eine Bierdose in der Hand hielt und sie überschwenglich mit „Hallo, Freunde!”, begrüßte.

„So sieht man sich wieder! Das ist eine Idee! Verbringen wir den Sonntag in Bratislava und saufen uns an! Denn heute ist ein Feiertag, ihr habt sicher den Parteitag der SPÖ verfolgt, wo sie einen neuen Vorsitzenden wählten! Was meinst du dazu, Jury? Du bist doch ein Studierter und kennst dich da sicher aus! Was sagst du zu der SPÖ, die einen neuen Vorsitzenden wählte, weil sie die nächste blau-schwarze Regierung verhindern will? Oder hast du dazu keine Meinung?”, fragte Erwin und er schüttelte den Kopf.

„Natürlich!”, bestätigte er energisch.

„Den Parteitag habe ich im Fernsehen verfolgt und auch bei der Mitgliederversammlung gewählt, bin ich doch Parteimitglied und ein aufrechter Sozialist, der an das Gute glaubt und die Welt verbessern will, auch wenn mir im Leben viel schief gelaufen ist! Ich glaube aber nicht, daß das billige Bratislaver Bier die Situation verbessern kann! Ich bleibe lieber hier und lasse euch allein verreisen!”

„Was hast du, Jury?”, mischte sich der dicke Robert wieder ein.

„Deshalb bist du verärgert? Mich hat der Parteitag unterhalten, obwohl ich nicht mehr wählen gehe!

„Das wird die nächste schwarz-blaue Regierung aber auch nicht verhindern!”, mischte sich Erwin wieder ein, der sein Bier ausgetrunken und die Dose in den Mistkübel geschmissen hatte.

„Lassen wir das Politisieren und vertschüssen uns zum Fahrscheinautomaten! Sehe ich doch die Security anmarschieren, die sicher unsere Fahrkarten sehen will! Die wollen wir nicht enttäuschen! Komm doch mit! Sei nicht fad und kneif nicht aus!”, fragte er Jury herausfordernd ansehend, der kopfschüttelnd sitzen blieb, während der dicke Robert und der glatzköpfige Erwin zu den Fahrscheinautomaten marschierten, denn es war wirklich frustrierend, daß er nichts anders tun konnte, als sich in Bratislava anzusaufen, wenn er nicht von der Security verscheucht werden wollte! War er doch, so schlecht es ihm auch ging, ein gesellschaftlich interessierter Mensch und hatte zu allem eine Meinung, die er statt sich zu ärgern, äußern sollte”, dachte er und schüttelte den Kopf, weil er keine Ahnung hatte, wie er das tun sollte.