Ukraineblues

Am vierundzwanzigsten Februar 2022 feiert die in Sarajavo geborene und während des Jugoslawienkrieges mit ihrer Familie nach Wien geflüchtete Slavenka Bubic ihren zweiunddreißigsten Geburtstag und will trotz der Corona-Krise, die immer noch herrscht, ein paar Freunde zu sich einladen.

Der Angriffskrieg auf die Ukraine trübt aber die Stimmung, löst bei ihr eine Retraumatisierung aus und bringt sie auch mit ihrer Freundin Kira und ihrem Kollegen Andreas auseinander. Slavenka will den Frieden, hat einen Traum und beginnt Geschichten ins Netz zu stellen, in denen sie Wladimir Putin und Wolodymyr Selenskyj in ein Marmeladeglas sperrt und ihnen die Leviten hält.

Das führt zu einem Shitstorm und ihrer Entlassung, so daß sie zu ihrer Großmutter nach Mostar aufbricht.

11.

Am nächsten Tag war Slavenka mit einem Handtuch und ihrem Badeanzug zum Fluß hinuntergegangen. Die Großmutter hatte es sich nicht nehmen lassen, sie dorthin zu schicken und den Kopf geschüttelt, als Slavenka ihr im Haushalt, Garten oder bei den Tieren helfen wollte.

„Kommt nicht in Frage, Kindchen! Es ist dein Urlaub und du sollst dich erholen! Was würden sonst die Dragana und der Slobo sagen, wenn ich dich hier arbeiten lasse und außerdem komme ich allein zurecht! Das bin ich gewohnt und bringt Sinn in mein Leben! Du sollst dich erholen! Geh an den Fluß, das ist ohnehin das Einzige, was wir hier zu bieten haben! Nimm dein Handy und was zu lesen mit! Vielleicht willst du wieder eine Insta-Story machen? Die Marmeladegläser lassen wir im Wohnzimmer stehen! Die kannst du beim Baden nicht brauchen! Denn vielleicht fallen sie dir ins Wasser oder werden dir gestohlen!”, sagte die alte Dame und kicherte erneut.

„Oder sie hetzen wieder den Verfassungsschutz auf mich!”, wiederholte Slavenka, der eingefallen war, daß die Mutter am Morgen angerufen und ihr mitgeteilt hatte, daß auch bei ihr zwei Männer in Regenmäntel gewesen waren.

„Die Nachbarin hat es mir erzählt! Ich war gerade einkaufen und der Slobo beim Arzt, so daß sie uns nicht angetroffen haben! Die Nachbarin hatte keine Ahnung, aber auch an den Verfassungsschutz gedacht!”

„Ist es wirklich schon so schlimm, daß man gleich verfolgt wird, weil man für den Frieden oder gegen das Impfen ist?”, hatte Slavenka sie unterbrochen und der Mutter bestätigt, daß sie gut angekommen war und die Großmutter sich gut um sie kümmerte.

„Die Oma ist da sehr enthusiastisch! Du hast wahrscheinlich auch die Fotos von ihren Gläsern bekommen!”, hatte sie gesagt und die Mutter hatte besorgt genickt.

„Stimmt, die Oma ist da wie du nicht zu bremsen! Aber paß auf, daß ihr keine Schwierigkeiten bekommt! Seid lieber vorsichtig, denn ich will nicht, daß euch etwas passiert!”

„Natürlich!”, hatte Slavenka geantwortet, das Badetuch auf den kiesbestreuten Boden gelegt und den Badeanzug in der improvisierten Umkleidekabine angezogen. Jetzt ein bißchen lesen oder in ihr Handy schauen, welche Reaktionen auf die neue Story gekommen waren. Auf Omas Putin und Selenskyj-Gesichter, die „Greetings from Mostar!”, dazugeschrieben hatte und es war auch prompt eine Reaktion von Kira gekommen, die „Geschmacklos!”, kommentierte und „Wie kannst du nur, Slavenka? Hast du keinen Genierer! Da hat man dich frei gestellt und hast nichts anderes zu tun, als nach Mostar zu fahren und mit deinen Geschichten weiterzumachen!”

„Wie geht es dir, Slavenka?”, hatte Andreas geschrieben.

„Wie ich sehe, bist du gut in deiner alten Heimat angekommen und machst weiter mit deinen Friedensbriefen! Ich weiß, du meinst es gut und ich bin auch dafür! Der Einzige, der das nicht will, ist Putin! Der will den Krieg und den muß man stoppen, wenn du meine Meinung wissen willst! Deshalb bin ich auch für Waffenlieferungen und schließe mich der deutschen Außenministerin an, die sogar „Wir sind im Krieg!”, gepostet hat! Ich bin im Krieg gegen Putin und für den Frieden, den man meiner Meinung nach, nur auf diese Art und Weise erreichen kann, Slavenka! „Krieg ist Frieden, Frieden ist Krieg!”, steht in George Orwells „1984” Aber wir werden uns nicht zerstreiten! Ich wünsche dir gute Erholung und deiner Großmutter, die sehr engagiert zu sein scheint, alles Gute!”, hatte er geschrieben und Slavenka hatte „So ist es! Vielen Dank und ebenfalls alles Gute!”, dazugeschrieben und in ihrer Strohtasche nach Lesestoff gesucht. Die Bertha von Suttner hatte sie blöderweise vergessen. Also weiter in ihren Handy nach den Nachrichten scrollen und schauen, was es da zu finden gab und da war schon etwas, was sie interessierte. Hatte doch Alexander van der Bellen, der grüne Bundespräsident, seine Wiederkandidatur bekanntgegeben und sich diesbezüglich mit seiner Frau und einigen Unterstützern auf die Mariahilferstraße gegeben, dort alle aufgerufen sich an der Wahl zu beteiligen und ihm, wenn möglich seine Stimme zu geben.

„Denn das ist der Vorrecht der Demokratie! Bleiben Sie nicht zu Hause, sondern unterstützen Sie mich, um die Demokratie für den Frieden und ein besseres Leben zu stärken! Obwohl wir derzeit viele Krisen haben, durch die wir uns kämpfen müssen! Die Pandemie, die Inflation, der Krieg, der unsere Werte stehlen will, so daß es nicht so einfach mit den Frieden ist, obwohl wir ihn uns alle wünschen!”, dozierte er energisch und Slavenka schüttelte den Kopf. Denn sie hatte sich entschlossen, Alexander van der Bellen, obwohl sie vor sechs Jahren sehr energisch für seine Kanditatur gekämpft hatte, diesmal nicht zu wählen. Hatte er sie doch in Sachen der Pandemie und auch in seinen Kriegsäußerungen enttäuscht!

„So nicht und nein, ich bin keine Demokratiefeindin, wenn ich diesmal nicht wählen gehe!”, dachte sie energisch.

„Denn Erstens weiß ich nicht, ob ich dann schon meinen Urlaub und meine Freistellung beendet habe und in Mostar gibt es keine österreichische Botschaft, wo ich meine Stimme abgeben könnte! Da müßte ich wahrscheinlich nach Sarajevo fahren! Aber wen sollte ich wählen? Sie diesmal nicht, habe ich mich entschlossen! Aber auch keine Herren der rechten Parteien! Das werden Sie auch nicht wollen! Keinen Herrn Brunner, keinen Herrn Rosenkranz und auch keinen Herrn Grosz oder Wallentin, denn ich bin eine alte Linke, auch wenn ich in Sachen der Pandemie und jetzt auch, was meine Friedensbemühungen betrifft, plötzlich zu einer rechten Schwurblerin geworden bin, was ich sehr eigenartig finde!”, dachte sie und schüttelte den Kopf. Sie hätte doch die Bertha von Suttner mitnehmen sollen oder sich das „Handbuch gegen den Krieg”, der Marlene Streeruwitz bestellen. Aber das würde sie, wenn es hier überhaupt eine Buchhandlung gab, nicht bekommen. Das könnten ihr höchstens die Mutter oder Esther schicken. An die könnte sie sich wenden oder versuchen, das Buch als E-Book zu bekommen. Das könnte ihr weiterhelfen, Bertha von Suttner und Marlene Streeruwitz, dachte sie und war aufgestanden, um ins Wasser zu gehen. Ein bißchen die Füße hineinstrecken, um auf andere Gedanken zu kommen, dachte sie und zuckte zusammen, denn das Wasser war sehr kalt. Da hatte sie die Großmutter nicht gewarnt, daß es nichts mit dem Schwimmen war oder war sie zu empfindlich? Wahrscheinlich war es so. Also sollte sie ihr Abenteuer beenden und in das Häuschen der Großmutter zurückkehren, die ihr zu Mittag Cevapcici und Pinienreis angekündigt hatte.

„Das ißt du sicher gern, Kindchen!”, hatte sie behauptet und sie sah auf der Uhr, daß es Zeit war, in das Häuschen zurückzukehren, um nicht zu spät zu kommen und die Großmutter warten zu lassen, dachte sie und rieb sich die Beine mit dem Handtuch trocken. Der Badeanzug war das geblieben. Also konnte sie die Jeans und das blaue T-Shirt darüber ziehen. Ihr Handy und das Badetuch in die Strohtasche stecken und ein bißchen den Fluß entlangspazieren, um auf einem Umweg zum Häuschen der Großmutter zu kommen, dachte sie und kam nicht umhin, sich über den Müll, der überall herumlag zu wundern und den Kopf zu schütteln. Pastikflaschen und leere Zigarettenschachteln lagen überall herum, als ob es keine Mülleimer gäbe? Sehr ordentlich war es hier nicht. Die Großmutter hatte recht, als sie gestern, als sie zur Brücke gegangen waren, wo alles elegant und sauber war, den Kopf geschüttelt hatte und darauf hingewiesen, daß es nicht überall so ordentlich war.

„Du wirst es schon sehen! Innen hui, außen pfui, Kindchen!”, hatte sie geschimpft und Slavenka war jetzt über ein Buch gestolpert.

„Was ist denn das?”, dachte sie erstaunt und beugte sich hinunter, um das Büchlein, es war eine englischsprachige „1984-Ausgabe” aufzuheben und in ihre Tasche zu stecken. Was für ein Zufall? Da hatte sie sich gerade Lesestoff gewünscht und fand ein zwar schon abgegriffenes George Orwell Buch. Wenn das kein Zufall war. So brauchte sie die Großmutter nicht nach einer Buchhandlung fragen, sondern konnte diesen Roman lesen. Ihr Englisch war zum Glück so gut, daß es damit keine Schwierigkeiten gaben. Marlene Streeruwitz Handbuch würde sie sich trotzdem bestellen. Doppelt war besser und wenn ihr Zwangsurlaub vielleicht ein langer wurde, war es gut, wenn sie genügend Lesestoff hatte.